Dich verstehe ich einigermassen. Ihn aber überhaupt nicht

Unterscheiden Sie sich von anderen Leuten? Fühlen Sie sich als etwas Besonderes? Kommen Sie authentisch rüber? Wenn Sie originelle Interessen haben und eine kuratierte Biografie vorweisen, gehören Sie zur «Gesellschaft der Singularitäten» (Andreas Reckwitz). In diesen Zeiten werde bei uns nämlich das Singuläre gefeiert und das Besondere in den Mittelpunkt gestellt, beobachtet der Soziologe.

(Ein aktuelles Beispiel: An den Olympischen Winterspiele in Südkorea zählt nur, wer sich ganz besonders hervortut, wer Gold holt oder wenigstens Silber oder Bronze. Ein Diplom-Rang sei bereits eine schlechte Klassierung, siehe Dario Cologna…)

Gerhard Schulze schrieb 1992 «Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart», ein Klassiker. Auch bei ihm spielt die Distinktion (= Wie will ich mich unterscheiden?) eine wichtige Rolle. Er unterteilte die Gesellschaft (in unseren Breitengraden) in fünf Milieus: Niveaumilieu – Harmoniemilieu – Integrationsmilieu – Selbstverwirklichungsmilieu – Unterhaltungsmilieu. Diese Milieus wies er alltagsästhetisch drei kollektiven Hauptmustern des persönlichen Stils zu: dem Hochkulturschema – dem Trivialschema – dem Spannungsschema.

Eine hohe Sensibilität für Geschmacksunterschiede als Folge der Innenorientierung einerseits und die Vielschichtigkeit der Erfahrung von Geschmacksunterschieden anderseits führen gemäss Gerhard Schulze zu einem tiefen Unverständnis und zu fundamentalen Gegensätzen zwischen den Milieus. Er spricht sogar von einer Art Milieu-Ethnozentrismus und damit verbunden von der Struktur des Nicht-Verstehens.

Es ist also gar nichts Besonderes, wenn eine Person Leute aus anderen Milieus mit anderen kollektiven Hauptmustern nicht versteht. Und wenn sich diese Person vor allem in den eigenen Kreisen bewegt. Das machen, auf ihre Weise, die meisten so…

Von der Erlebnisgesellschaft zu den Sinus-Milieus. Das Sinus-Institut in Heidelberg / Berlin legte 2016 zehn Sinus-Milieus® für die Schweiz vor, eine bisher einzigartige soziologische Untersuchung. Die zehn Milieus oder m. a. W. die zehn Gruppen Gleichgesinnter zeigen sich als Härdöpfel-Chart. Kurze Stichworte, was ein Milieu in etwa ausmacht, ermuntern, sich selber in einem der Milieus zu entdecken.

Das Sinus-Institut macht auch interkulturelle Vergleiche. Sie ergeben, dass Gruppen Gleichgesinnter über Länder- und Kulturgrenzen hinweg bestehen. Eine Beobachtung, die auf Reisen querbeet durch die Welt wohl von manchen bestätigt werden dürfte. Menschen aus verschiedenen Ländern, aber vergleichbaren Milieus verbindet mehr untereinander als mit den meisten ihrer Landsleute…

Der kultursoziologische Blickwinkel lässt erkennen, dass mehrere soziale Milieus nebeneinander existieren. Und dass zwischen ihnen wenige Berührungspunkte bestehen. Er lässt auch nachvollziehen, dass Nicht-Verstehen und Abgrenzung gegenüber «dem / der anderen», gegenüber «der / dem Fremden» nachvollziehbar sind: Dich verstehe ich einigermassen. Ihn aber überhaupt nicht.
Interessant wird es, wenn Grenzüberschreitungen versucht werden – und gelingen.

PS: Mehr zu Gedankengängen, Einsichten und Thesen von Gerhard Schulze, von Andreas Reckwitz und vom Sinus-Institut lesen Sie in meiner Zusammenstellung Soziale Milieus zeigen Abgrenzungen in der Rubrik Mikroskop.

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