Ich gehe

Irgendwo gelesen: Der Mensch ist dazu gemacht, einige Kilometer am Tag zu gehen.
Jetzt überall Grossbuchstaben: BLEIB ZUHAUSE. STAY AT HOME. BLIIB DIHEI.
Kurz überlegt: Kann, soll, darf ich Ge(h)danken anstellen?
Es wird beschwichtigt: Ja, ums Haus herum darf ich spazieren. Im benachbarten Wald auch. Auf Physical Distancing.
Trotzdem sind Grenzen eng gesteckt. Oder gleich geschlossen. Lockdown.

Ich nehme ein Buch zur Hand. Sein Titel: „Wanderlust“. Ich lese es – Achtung: Situationskomik – im Home Office. Dabei gäbe es fast nichts Schöneres, als im Keller den Rucksack zu holen, Wanderschuhe zu schnüren und einen anderen Buchtitel konkret werden zu lassen: „FUSS GANG. Von zu Hause über alle Berge bis ans Ende der Schweiz“. In Berghütten liesse sich, auf hohem Niveau, trefflich über Wanderlust debattieren.
Was wird im kommenden Sommer möglich sein an Wanderlust und Bergtouren? Noch keine Pläne. Nur Ideen, Absichten. Und viel Vorfreude!

Vorläufig, vor dem Laufen (!), bleibt im Home Office die Lektüre der „Wanderlust“. Die englische Fassung erschien vor 20 Jahren und hat seine Aktualität behalten. Das Buch zählt fast 400 Seiten und wäre für den Rucksack wohl viel zu schwer. Rebecca Solnit, eine US-amerikanische Essayistin, erzählt in „Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens“ zahlreiche Gehdanken, die auch einem passionierten Wanderer neue Ein- und Aussichten verschaffen.
Die 17 Kapitel, in vier Teile geordnet, bilden weder ein herkömmliches Wanderbuch, noch einen Selbsterfahrungsbericht. Sie werfen, auf hohem Niveau, einen Blick in die Tiefen der Kulturgeschichte. Die Autorin beobachtet ein „Gehen, das so leichtfüssig in Religion, Philosophie, Landschaft, Stadtpolitik, Anatomie, Allegorie und Herzschmerz eingeht“. Gehen wird seit je mit kulturellen Bedeutungen aufgeladen, die sich vom Erotischen bis zum Spirituellen, vom Revolutionären bis zum Künstlerischen erstrecken. Gehen durchbricht Grenzen, kennt keinen Lockdown.

Teil I thematisiert die Geschwindigkeit des Denkens. Eines der Kapitel beschreibt den Verstand bei fünf Kilometern die Stunde. Manche Philosophen sind als Wanderer bekannt. Philosophenwege – ich kenne je einen in Bern und in Arbon am Bodensee – zeugen bis heute davon. Ebenso wird Jesus von Nazaret im Markus-Evangelium als Wanderer charakterisiert. Auch Mönche gehen beim Stundengebet durch den Kreuzgang ihres Klosters.
Gehen, eine universelle Tätigkeit des Menschen. Rebecca Solnit stellt speziell Jean-Jacques Rousseau und Søren Kirkegaard vor. Beide haben den Zusammenhang von Gehen und Denken beschrieben. Heute jedoch werde eher das Reisen und die Mobilität thematisiert, weniger das Gehen selbst.

Teil II trägt die Überschrift „Vom Garten in die Wildnis“. Hier widmet sich ein Kapitel dem Bergsteigen und der Landschaftsästhetik. Berge waren und sind metaphorische und symbolische Räume. In Bhutan, beispielsweise, ist es bis heute verboten, auf 6000er und 7000er zu klettern. Die höchsten Gipfel sind Wohnorte von Göttern und Göttinnen. In Japan stellte man sich Berge als Mittelpunkt riesiger Mandalas vor, als Quelle spiritueller Macht. Heute wird Bergsteigen weniger als Pilgereise gedeutet, denn als etwas Sportliches. Dramatisches gewinnt es aus Katastrophen und Tragödien. Es gibt aber auch ein „kontemplatives“ Bergsteigen, bei dem der Aufenthalt in den Bergen zählt und nicht der Gipfelsturm.
Für meine Bergtouren halte ich mich an George Mallory. Er antwortete beim Geldsammeln für seine Everest-Expedition auf die Frage, warum er dort hinauf wolle: „Weil er da ist.“ Es ist übrigens bis heute nicht geklärt, ob er als erster Mensch auf dem Gipfel der Qomolangma stand.

Teil III beschreibt „Leben auf den Strassen“. Eines der Kapitel befasst sich mit „Paris, oder Botanisieren auf dem Asphalt“. Rebecca Solnit kam als 17-jährige an die Seine. Sie beschreibt den berühmten Flaneur, u.a. in Texten von Walter Benjamin. Ich würde Bücher von Paul Nizon ergänzen. Der Flaneur kann nicht klar definiert werden. Er wird in Verbindung gebracht mit Musse, mit Menschenmengen, mit Entfremdung und Distanziertheit, mit Beobachten und Gehen, mit Schlendern. Er geht auf dem Asphalt botanisieren… und ist eine Figur in der Literatur, keine reale Person. Die Autorin zitiert weitere Beispiele, in denen Paris auflebt als Abenteuer, als Wildnis, als Urwald, als erogene Zone, als Schlafzimmer, als Buch, das man am besten im Laufen liest. Grosse Literatur!

Teil IV schliesslich heisst „Hinterm Ende der Strasse“. Rebecca Solnit nähert sich darin der „Gestalt eines Spaziergangs“ an. In diesem Kapitel weist sie auf Künstler:innen hin, welche Gehkultur thematisieren. Diese sei als Reaktion auf das Immer-schneller zu verstehen, als Protest, als Gegenkultur. Ab den 1960-er-Jahren kamen Gehen und Kunst zusammen, u.a. gefördert vom abstrakt expressionistischen Maler Jackson Pollock. Körper von Künstler:innen wurden zu einem Medium für Performances. Oder eine Skulptur kam als Strasse daher. Konzept-Kunst ist in. Dieses Kapitel erweist sich als Fundgrube für moderne Kunst unter dem Haupttitel „Wanderlust“.
Gehen als Kunst. Ob ich das Buch von Rebecca Solnit bei einer nächsten Wanderung in den Rucksack einpacke? Als Zwischenverpflegung. Als Inspiration für ein Gehen wie ein Tausendfüssler, dessen Füsse dazu da sind, um immer wieder über einen zu stolpern.
Ich gehe. Ich stolpere. Ich stehe wieder auf. Ich gehe.

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