Offene Tür im November

Meine Werkstatt macht einen überstellten Eindruck. Material liegt kreuz und quer herum, dazu die Werkzeugkästen zu Religion, Gesellschaft & Kultur. Der überstellte Eindruck macht kein Alleinstellungsmerkmal aus. „Ich habe viel zu tun“, höre ich von Leuten, denen ich begegne. Eine typische Zeiterscheinung? Hätten wir nicht viel zu tun, würde wohl etwas bei uns nicht stimmen, reden wir Performer:innen und/oder progressive Realist:innen uns ein. Oder bluffen wir nur mit einer vollen Agenda? Damit wir nicht als faul, bequem, langweilig, ideenlos, uninteressiert dastehen …

Und jetzt dies: Ein Blick in meine aktuelle Agenda zeigt, dass in Woche 48 vom 25. November bis 1. Dezember 2024 kein einziger auswärtiger Termin ansteht. Werde ich in Woche 48 nichts anderes zu tun haben, ausser jeden Morgen Kaffee zu machen, Zeitung zu lesen und am Abend Geschirr abzuwaschen? Kein Projekt. Keine Sitzung. Keine Sozialzeit. Nicht einmal ein Arztbesuch. Nichts. Im Dezember sieht es im Kalender ebenfalls sehr ruhig aus – ein stiller Advent wartet auf mich. Davon träumen gestresste Leute. Ich bin ein Glückspilz! Bin ich ein Glückspilz?

Um zu „beweisen“, dass ich in diesen hektischen Zeiten wie alle (?) viel zu tun habe, schreibe ich einen Text für regekult.ch, betitelt mit Offene Tür. Wer durch diese Tür hineingeht, soll eine mit Material und speziellen Werkzeugen überstellte Werkstatt betreten. Hier schafft, so die wortlose Aussage, ein kreativer Typ vor sich hin. Ein Handwerker. Ein Wortkünstler. Etwas Bluff muss sein.

Ich bin mir des Widerspruchs bewusst. Als pensionierter Mensch, als emeritierter Gemeindeleiter, als ehemaliger Redaktor und Journalist, als vierfacher Grossvater habe ich eigentlich fast nichts mehr tun und noch weniger zu sagen. Life is not about me. Die Welt dreht sich nicht um mich. Für regekult.ch zu arbeiten, gilt deshalb aus der Perspektive eines alten weissen Mannes als immaterielles Vergnügen, als Luxus pur. Ich suche vagabundierend Buchstaben und webe an Texten, weil es mir gefällt. Punkt. Aktuelle Projekte, zu denen in meiner Werkstatt Material herumliegt, nenne ich aus Anlass der Offenen Tür. Ja, ich habe viel zu tun. Wäre Nichtstun (m)ein Leben? Eben.

Auf dem Tisch liegt Material für …

• eine Reportage zu Japan. In den Jahren 2024, 2016 und 2010 bereiste ich das Land zusammen mit Rosmarie. (Sie war öfters dort.) Japan fotografierte sie ausgiebig. Und ich sammle Infos zu einer Region, über die bei uns zuhause gesprochen wird. Eine unserer Töchter lebte dort, und sie fliegt regelmässig in den Fernen Osten. Eine japanische Austauschstudentin lernte bei uns in Köniz Deutsch. Noch heute haben wir Kontakt mit ihr, nun lebt sie in den USA.

• eine Reportage zu den USA. Am 1. November kamen Rosmarie und ich von einer 24-tägigen Reise durch den Nordwesten und die Westküste der USA zurück. Unsere ältere Tochter hat die Reise geplant und mich als Driver sicher quer durchs Land geführt. Sie lebte als Austauschstudentin 1 Jahr in Kalifornien. Dort haben wir ihre Austauschfamilie getroffen und für einige Tage deren Gastfreundschaft genossen. Unsere japanische Austauschstudentin freute sich ebenfalls über unseren Besuch in San Francisco. Im Umfeld der US-Wahlen 2024 habe ich neue Einblicke in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten erfahren (im Auto, in Gesprächen).

• einen Essay zur Klosterinsel Reichenau im Bodensee. Im Jahr 2022 wanderten Rosmarie und ich rund um den Bodensee. Dabei entstand auf www.buenzli-buob.ch das Online-Magazin MBB’s Bodenseetrail. Darin und in regekult.ch finden sich Bodensee-Essays. Nun gab es in Konstanz eine Ausstellung über 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau. Wir haben sie besucht und noch viel mehr Infos erhalten als bei unserer Wanderung. Die Reichenau ist ein Essay wert.

• einen Text zu Arbon. Eine Erzählung, eine Reportage, ein Essay, ein Gedicht zu meiner Geburtsstadt? Bereits die Unentschlossenheit, wie ich meinen Text zu Arbon nenne, weist darauf hin: über den Geburtsort zu schreiben, in dem ich seit bald 60 Jahren nicht mehr wohne, macht neben Vergnügen auch Bauchweh. Auf meinem Schreibtisch steht eine Menge an Büchern und Informationen zum pittoresken Städtchen am Bodensee. Dazu hat mein jüngster Bruder als Historiker bereits einiges über Arbons Geschichte publiziert. Was soll ich noch beisteuern? Mir fehlt eine zündende Idee, ein Aufhänger. Die vor Jahren angedachte Expo 27 findet bekanntlich nicht statt im Bodenseeraum. Jammerschade, sagt der Bodenseer.

• einen soziologischen Blick auf den Stadt-Land-Unterschied in Europa und den USA. Sergio Benvenuto macht sich dazu aufschlussreiche Gedanken. Den Text lesen Sie in der Rubrik Mikroskop unter Kulturelle Phänomene. Sein Titel: Das Land belagert die Stadt. Dazu etwas Kultursoziologie mit einer neuen Milieustudie des SINUS-Instituts und dem Blick auf 10 soziale Milieus.

• das 100-Jahr-Jubliläum der Lukasgesellschaft. Ende November werden die meisten Kunstinterventionen in kirchlichen Räumen abgebaut sein. Das OK sammelt fotografisches Material für den Rückblick sowie Medienberichte. Die Webseite www.lukasgesellschaft.ch bleibt am Ball. In meiner Werkstatt findet sich Material zu Kunst und Kirche.

Buchbesprechungen. Ohne anregende Bücher kann ich nicht leben. Hie und da schafft es ein Buchhinweis auf regekult.ch, so nächstens von Philipp Blom Die Unterwerfung. Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur. In der Werkstatt steht Buch neben Buch.

ein eigenes Buch. Ideen und Reflexionen, die ich vielleicht in einem Buch darstellen werde, nehmen zu. Aktuell stapeln sich in meiner Werkstatt 131 Seiten als Gerüst für vier grosse Kapitel. Es wird sich zeigen, ob ich Wesentliches lesbar formulieren kann. Durch  Abschreiben? Franz Molnar bemerkt dazu ironisch: Aus 1 Buch abschreiben = Plagiat. Aus 2 Büchern abschreiben = Essay. Aus 3 Büchern abschreiben = Dissertation. Aus 4. Büchern abschreiben = ein 5. gelehrtes Buch …

Was können Sie, lieber kreativer Mensch, aus Ihrer Werkstatt erzählen? Bei mir gibt es die Rubrik Einwurf. Oder schätzen Sie als Glückspilz eher einen Meditationsraum für einen stillen Advent?

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„Es ist dramatisch!“ – „Na und?“

Wenige machen viel Lärm. Wenn Sie hitzige Diskussionen verfolgen, denken Sie wahrscheinlich hie und da, „die Welt spinnt“. Um Lärm einzuordnen, gibt es ein altes Prinzip, die 90-9-1-Regel. Sie besagt: Nein, nicht die ganze Welt spinnt. Nur 1 Prozent behauptet, etwas sei dramatisch. 9 Prozent diskutieren das hitzig. Der Rest (90 Prozent) schüttelt den Kopf und geht weiter, was soll‘s. Eine kluge Regel? Meistens wende ich sie an und bin Teil der 90 Prozent. Manchmal schaffe ich das nicht und werde ebenfalls hitzig mit den 9 Prozent. Nur selten versuche ich, mit einem Text auf regekult.ch oder in einem anderen Medium etwas „Lärm“ zu provozieren mit einer These oder einem eigenartigen Gedanken. Alle drei Verhalten der 90-9-1-Regel sind mir vertraut. Und Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser?

Mit der Diskussions(un)kultur ist es so eine Sache. Behaupten geht leicht, zuhören geht schwer. Dazu ein Zitat von Osmo Antero Wiio aus Finnland: „Kommunikation funktioniert normalerweise nie, ausser zufällig.“ Hoppla. Und ich bin in der Kreativwirtschaft tätig, in der Branche der Kommunikation … Noch ein umwerfendes Zitat: „Das Gehirn ist eine faule Sau“, sagt der Psychologe Hans-Georg Häusel. Schwarmverhalten sei einfacher. Der Psychiater Philipp Sterzer ergänzt: „Vernunft ist eine Illusion.“ Drei klare Aussagen, die in Diskussionen mit viel Lärm wenig bis nie praktiziert werden. Angewandt würde viel erregtes Reden durchschaut und reduziert.

Wer den öffentlichen Diskurs dominiert
In den letzten Wochen sind mir Texte unter die Augen gekommen mit der These, Linksliberale würden heute den öffentlichen Diskurs dominieren – und dagegen wachse konservativer, populistischer Widerstand gerade bei (männlichen) Jugendlichen. Schlagworte, klar. Die eine Seite grenze die jeweils andere Seite aus, heisst es. Ich nehme an, Sie kennen Beispiele. Es wird über unüberbrückbare Spaltungen geschrieben, über solche zwischen Deutschland-West und Deutschland-Ost oder zwischen Demokraten und Republikanern in den USA oder über den Stadt-Land-Graben in der Schweiz, über Gegensätze zwischen linksliberal und rechtspopulistisch, über „left behind“ und „running ahead“ – um einige Themen zu nennen.

Als einer, der kreativ mit Sprache „handelt“ und arbeitet, weiss ich, dass eine knapp formulierte Sprache unser Bewusstsein mitprägt, dass sie normalerweise schwarz-weiss malt, dass sie urteilt statt analysiert. Bad news verkaufen sich besser als good news, erstere können sogar süchtig machen. Untergangs-Szenarien mit Ängsten vor Kriegen, Pandemien und Umweltkatastrophen beeinflussen uns unbewusst ein Stück weit, auch unsere Kinder und Enkel:innen. Als Gegenmittel sind Hoffnung wecken und positives Denken harte Arbeit. Eine mögliche Reaktion auf negative Meldungen: Verzicht auf Fernsehen und Zeitungen. Eine weitere Reaktion: „Die andern sind schuld, ich nicht.“ Eine oft gehörte Reaktion: Fremde schaffen Probleme, die wir ohne sie nicht hätten. Ein mögliches Verhalten ist: Gespräche im Kleinen führen, die „andere“ Seite wertschätzen, nachdenken und vordenken.

Topografie der Verachtung
Ich staune, wenn die einen andere als rückständig einstufen, als solche, die keine Ahnung haben, als soziale Verlierer, als Unbelehrbare. Ich bin besorgt, wenn die einen im Verhältnis zu anderen eine Topografie der Verachtung erstellen. Deren mentale Landkarte kommt ohne sogenannt Rückständige nicht aus (in England betrifft es den Norden, in den USA den Süden, in Deutschland den Osten, in Italien den Süden, in der Schweiz den Kantönligeist). Universalisiert wird diese Topografie der Herabsetzung durch einen Kontrast von Urbanität und Provinz. Ein Faktencheck sowie persönliche Begegnungen hingegen würden positive Resultate und Bilder erzeugen, mit anderen Worten: unzählige Differenzierungen. Niemand ist „typisch“! Damit könnte die erwähnte Topografie ins Abseits gestellt werden. Unterschiede sind keine Bedrohung. „So ist das Leben / eben / uneben“, ein Netz von Beziehungen und Zusammenhängen, von Zwischentönen und Graustufen.

Verzerrte Wahrnehmungen
Die 90-9-1-Regel finde ich ein probates Mittel, Schlagworte des einen Prozent nicht als bare Münze zu verstehen. Ich sehe sie als Rotlicht: stoppen, innehalten, nachdenken. Das Gleiche gilt für Texte, die gross aufgemacht von Spaltungen erzählen. Es könnte sich um verzerrte Wahrnehmungen von Medienleuten und/oder Politprofis handeln. Oder um die Inszenierung eines grossen, dramatischen Welttheaters. Es könnte sein, dass sich Medienunternehmen damit eine höhere Auflage, grössere Einschaltquoten, mehr Klicks und damit mehr Einnahmen versprechen – und Parteien mehr Zuspruch, mehr Einfluss.

„Die Situation ist dramatisch, wir müssen was ändern, JETZT!“ Meine Reaktion auf solche Aussagen von Mainstream-Meinungsführer:innen (den 1 Prozent): „Na und?“
Früher hätte ich heftig mitgeschlagwortet mit den 9 Prozent, mich genervt über „die Abwesenden“. Heute schätze ich die Abwesenheit der 90 Prozent auf der Medienbühne, auf dem sogenannten Mainstream. Sie leben ihren Alltag mal so, mal so. Pragmatisch versuchen sie trotz all ihrer Sorgen ein gutes Leben für sich und, wenn möglich, mit anderen zusammen zu gestalten. Illusionslos. Mit Bodenhaftung.

Unsere Gesellschaft bewegt sich in langsamen Schritten trotz und gerade wegen Bedrohungen durch Krankheiten, Kriege, Konflikte, Klimaerwärmung, Katastrophen. Das Jetzt findet ungleichzeitig statt in der „Ko-Existenz des Widerspruchs“. Das ist für 90 Prozent normal. Sie sagen: „Na und!“

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Kunst. Kunst. Köniz

Wenn Sie dem Begriff moderne Kunst begegnen, schauen Sie dann gleich weg oder sind Sie gespannt darauf, was kommt? Besuchen Sie hie und da ein Museum? Aktuell können Sie sich ausserhalb von Museen gratis, aber nicht vergebens auf Kunst einlassen. Ich habe Tipps für Sie.

Die Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche – Lateinisch abgekürzt mit SSL – feiert 2024 ihr 100-jähriges Bestehen. Die Webseite www.lukasgesellschaft.ch zählt in der Rubrik Jubiläum künstlerische Aktivitäten auf. U. a. gibt es eine ArtMap, eine Art Katalog. Diese weist in Text und Bild auf 29 Kunstinterventionen in der ganzen Schweiz hin. Auf der Jubiläumsseite werden zudem Medienberichte aufgeschaltet. Auch das neue Jahrbuch GEWAGT! 100 Jahre gegenwärtig wird vorgestellt inklusive Bezugsadresse.

Die SSL ist ein Netzwerk für Kunstschaffende, Kunsthistoriker:innen, Theolog:innen und an Kunst interessierten Leuten. Zur Zeit zählt sie rund 200 Mitglieder. Ich selber bin viele Jahre dabei und im Jubiläumsjahr engagiert. So half ich im Hintergrund mit, in Köniz, vor der Kirche St. Josef, eine Kunstinstallation aufzugleisen. Das Kirchliche Zentrum wurde zwischen 1988 und 1991 gebaut. Zwei Architekten und zwei Künstler – Mitglieder der SSL – waren daran beteiligt. Darum gilt Köniz-St. Josef als Synthese von Architektur und Kunst, wie ein Kleiner Kirchenführer erklärt. Von 1995 bis 2007 durfte ich dort als Gemeindeleiter tätig sein und Ideen der Künstler und Architekten rund um das Kirchliche Zentrum mit seinem Motto „intra murum“ immer wieder den Pfarreiangehörigen näher bringen. St. Josef steht in der Tradition der Klosterarchitektur. Beeinflusst waren die Architekten nämlich vom bekannten US-amerikanischen Architekten, Stadtplaner und Hochschullehrer Louis Isadore Kahn (1901-1974). In Pennsylvania hatte er den Auftrag,  1965-1969 für das Mutterhaus der Dominikanerinnen ein neues Kloster zu entwerfen  (das aber nicht realisiert wurde). Seine Pläne haben die Berner Architekten Hansueli Jörg und Martin Sturm in Köniz angepasst. Louis I. Kahn war bekannt für seine netzförmigen, unhierarchischen Grundrisse. Bei ihm bekommt Raum im Spiel des Lichtes eine vorrangige Rolle. Auch Bildhauer Kurt Sigrist sowie Kunstmaler Godi Hirschi liessen sich auf den Klostergedanken ein. Ihre Werke kommen spartanisch und aussagekräftig daher.

Die „Schwelle“ von Jo Achermann
In Absprache mit der aktuellen Gemeindeleiterin konnte ich den Obwaldner Bildhauer Jo Achermann für eine ortsspezifische Kunstintervention gewinnen. Auch er ist langjähriges SSL-Mitglied. Nun realisierte er in Köniz für das SSL-Jubiläum die Skulptur „Schwelle“ als Übergang von draussen nach drinnen (und umgekehrt). Sie steht zwischen dem Vorplatz aus Kies und der Kirchentür und betont die Achse, die vom Ortszentrum Köniz zum Zentrum der Kirche führt. Wer durch die semitransparente Schwelle aus Holz geht, verlässt den profanen Raum und nähert sich dem sakralen Raum mit einer hoffentlich ganz anderen Stimmung. Wer auf der Schwelle – im Raum der Schwelle! – innehält, kann möglicherweise plagenden Ballast des Alltags abwerfen. Kann durchatmen, kann zu sich kommen. Die Hektik des Durcheinanders verschwindet – und es öffnet sich mit der Kirchentür eine zeitlose Ebene, die gut tut (auf dem Kirchturm hat es keine Uhr, gibt es keinen Glockenschlag zu jeder Viertelstunde). Eventuell erwartet Sie meditative Musik.

Bis 3. November 2024 können Besucher:innen der Kirche St. Josef deren Sakralraum über die kunstvolle Schwelle von Jo Achermann betreten. Die sehenswerte Kirche ist von 8.00 bis 20.00 geöffnet.


Foto Jo Achermann

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Lesen? Lesen!

Gestern traf ich mich mit meinem 10-jährigen Enkel zum Nachtessen. Zum Dessert las er mir eine Geschichte vor. Eine Première für mich. Bisher war ich derjenige, der ihm Geschichten vorlas oder solche zu seinen Stichworten erfand. Nun ändert sich das Abendritual, er wird zum Vorleser. Ich staunte über das gepflegte Hochdeutsch des Fünftklässlers. Es war schön, ihm zuzuhören. Ich freue mich auf Fortsetzungen. Selber bin ich lieber Leser als Vorleser. Letzteres fiel mir immer schwer.

Lesen ist eine Kulturtechnik, die von vielen praktiziert wird. Dennoch gab es Mitte August Zeitungsartikel, die Papst Franziskus zitierten. Er verfasste kürzlich einen Brief, in dem er auf 12 Seiten über die Bedeutung des Lesens referierte. Er selber ist ein intensiver Leser von Romanen und Gedichten. Bemerkenswert ist, dass ein Papst dem Thema Literatur einen sogenannten Hirtenbrief widmet – ohne ein einziges Bibelzitat zu verwenden. Er schreibt aus persönlicher Sicht. Und er kennt die Literatur, im früheren Leben unterrichtete er in Argentinien als Lehrer dieses Fach. Nun ermuntert er die Leser:innen seines Briefes: Lest Bücher! Von Pflichtlektüre hält er jedoch nichts, Bücher sollen vielmehr Wegbegleitung werden. Bücher würden mithelfen, die eigene Persönlichkeit zu bilden. Er sagt sogar, ein Buch zu lesen sei manchmal wichtiger als beten. Das war schon lange meine Überzeugung, nun kann ich sie in bestimmten Kreisen päpstlich unterfuttern …

Lektüre als Teil des Alltags
Ich lese nicht bloss Bücher. Seit jeher waren und sind Zeitungen sowie Zeitschriften „mein Stundengebet“. Ohne Lektüre kann ich mir meinen Alltag nicht vorstellen. Auch in meinen beruflichen Tätigkeiten spielte und spielt sie eine wichtige Rolle. In einer Bibliothek Bücher auszuleihen, in einer Buchhandlung Neuerscheinungen zu beachten, hie und da ein Buch zu kaufen sowie Tag für Tag die neueste Zeitung zu „meditieren“ – darauf kann ich nicht verzichten. Allein Der Bund und die Neue Zürcher Zeitung bringen mir jeweils ein Stück Welt in den Briefkasten, die meinen Horizont immer wieder erweitert oder mich überrascht mit ungewohnten Perspektiven. Ich schätze Reportagen und Hintergrundinformationen. Zu einigen Themen sammle ich Zeitungsartikel, manche Ordner sind damit prall gefüllt – es werden immer mehr.

Ein Lesschreiber
Vom Kölner Schriftsteller Navid Kermani habe ich einen neuen Begriff übernommen: den Lesschreiber. In Gesprächen, in Diskussionen und in der „Arbeit“ für regekult.ch benutze ich manche Erkenntnisse aus dem Lesen. Ich behalte meine vielfältigen Lektüren nicht für mich „im stillen Kämmerlein“. Ich teile sie mit Leserinnen und Leser meiner Texte. Und ich profitiere von andern Lesschreibern und Lesschreiberinnen. Lesen und schreiben – das macht einen bedeutenden Teil meines Lebens aus. Schön und erfreulich ist es, dass es für beide Tätigkeiten keine Pensionierung gibt. Nur Schreibinstrumente haben sich verändert.

Von Anfang an kein Schönschreiber
Ich erinnere mich an den ersten Schultag in der 1. Klasse. Wir mussten auf der Schiefertafel (!) den Buchstaben „I“ schreiben“. Das war der Anfang meiner Schreiberei, was mir damals natürlich nicht bewusst war. Leider habe ich es nie geschafft, mit „schöner“ Handschrift zu kritzeln. Ich bewundere jede und jeden mit prägnanter Handschrift. Schönschreiben war und ist für mich eine Qual und brachte mir die schlechteste Note im Zeugnis der Primarschule ein. Kalligraphie – ein unerreichtes und unerreichbares Ziel. In China und Japan eine hohe Kunst.

Verständlich, dass Schreibmaschinen (früher), moderne Schreibwerkzeuge und Druckereien mir entgegenkommen. Der Prozess des Schreibens und die Handschrift an der Tastatur sind für andere Leute zum Glück nicht sichtbar. Sie sehen nur das Resultat, den fertigen Text. Natürlich könnte man den noch anders gestalten. Und mit Fotos und Bildern unterlegen. Und mit Videos oder gesprochenen Texten erweitern. Und via Facebook und Instagram publizieren. Ich weiss – und lasse es, wie es ist.

So – genug geschrieben für heute. Ich nehme nun unsere beiden Tageszeitungen auf Papier zur Hand – und lese Seite für Seite.

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