Papst von März 2013 bis April 2025

«Buona sera!» waren die ersten Worte, mit denen der neue Papst Franziskus am 13. März 2013 die Menschen auf dem Petersplatz in Rom und vor den TV-Bildschirmen in aller Welt («urbi et orbi») begrüsste. Er bat sie um ihren Segen und um ihr Gebet für ihn. Am Ostermontag 2025, am 21. April, starb er 88-jährig. Heute sind die Medien voll mit Berichten und Kommentaren über seine Amtszeit. Ich wiederhole hier zwei Blogs von mir, einen vom 14. März 2018 und einen vom 30. April 2021.

Mehr als fünf Jahre
Der 13. März 2013 ist der Tag der Wahl von Jorge Mario Bergolio zum Papst.
Der 4. Oktober 1226 ist der Tag des Todes von Giovanni Battista Bernardone.
Beide kennt man unter dem Künstlernamen Franziskus. Beide sind Lebenskünstler. Der eine kommt von Buenos Aires und sagt zuerst: Buona sera! Der andere kommt von Assisi und sagt immer wieder: Pace e bene!
Der eine spielt in San Damiano das Kirchenbauspiel. Im zerfallenden Kirchlein hört er eine Stimme zu ihm sprechen: „Bau mir die Kirche wieder auf!“ Der andere spielt im Vatikan das Kirchenumbauspiel. Das Wahlgremium der Kardinäle hat ihn dazu beauftragt nach einer flammenden Rede.
Beide merken, dass es nicht so einfach geht. Doch beide sind ver-rückt, Narren Gottes. Sie lassen sich von Gegenspielern nicht abhalten. Beide leben in Zeiten von Umbrüchen. Beide bringen in ihrem neuen Leben Aspekte ein, die vom Mainstream der jeweiligen Leitkultur übersehen, ja verdrängt werden.

Francesco von Assisi zeigte als Laie, der er zeitlebens blieb, dass in seiner Bruderschaft und später bei der Entstehung seines Ordens Hierarchie und Prälatur unbedeutend sind. Er unterstützte gleichgesinnte Frauen, Klara von Assisi ist die bekannteste. Francesco sprach und sang vom fröhlichen Gesicht und vom Lachen eines Menschen, der weiss, dass Gott Freude ist. Franziskus und die Franziskaner entschieden sich für das Sprechen in kleinen Städten, die damals im 12./13. Jahrhundert entstanden. Sie waren viel unterwegs, einige von ihnen bis China. Für ihr Erzählen suchten sie neue Plätze der Kommunikation. Nicht der Kirchenraum war ihnen wichtig, sondern der öffentliche Platz, der Marktplatz. Franziskaner wollten keine eigenen Kirchen besitzen, sondern durch ihr Auftreten in der Stadt und bei den Menschen zuhause neue Kommunikationsräume schaffen. So prägten sie eine vorher unbekannte Lebensvorstellung. Halb Laie, halb Mönch, verschrieb sich Francesco einem Lebensstil der Einfachheit, des Unten aus einem starken Selbstwertgefühl heraus und des Redens am Rand der offiziellen Kirche. Seine Liebe galt allen Menschen, allen sozialen Milieus, allem Lebendigen. Der Sonnengesang ist nur ein Zeugnis dafür. Francesco verkörpert bis heute Wandel und Aufbruch. Er sammelt Blinde, Lahme, Stumme, Verachtete, Bettler, Sünder und Tote, damit sie in der Begegnung mit Gott ungeahnte Wunder erleben.

Im Konklave zur Papstwahl betonte Kardinal Jorge Mario Bergoglio, Evangelisierung setze Eifer und kühne Redefreiheit voraus, damit sie aus sich selbst herausgehe nicht nur an die geografischen Ränder, sondern an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, des Schmerzes, der Ungerechtigkeit, der Ignoranz, der fehlenden religiösen Praxis, des Denkens und jeglichen Elends. Als Papst warnt er immer wieder vor einer egozentrischen Kirche. Ihm ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, wichtiger als eine Kirche, die sich in sich verschliesst: „Mir ist eine Kirche lieber, die etwas falsch macht, weil sie überhaupt etwas tut, als eine Kirche, die krank wird, weil sie sich nur um sich selbst dreht.“ Er passt nicht in von diesem oder von jener vorgefertigte Schablonen hinein.

Eigentlich wollte der Jesuit aus Argentinien fünf Jahre lang Papst sein. Von dieser Beschränkung ist bei ihm keine Rede mehr, obwohl er nun im 82. Lebensjahr steht.

Das Kirchenumbauspiel ist in vollem Gang. Ein paar neue Steine genügen nicht wie noch am Kirchlein von San Damiano. Franziskus braucht als Papst geistvolle Mitspielerinnen und Mitspieler mit langem Atem, mit grosser Freude, mit engagierter Gelassenheit für mehr als fünf Jahre. (Schluss des Blogs vom 14. März 2018)

Charismatiker und Wüsteneinsiedler
Die Redaktion des Berner Pfarrblatts sitzt regelmässig mit ihrem Beirat zusammen, aktuell via Zoom, um die letzten Print-Nummern und spezielle Online-Beiträge kritisch zu beleuchten sowie um Ideen für neue Artikel zu sammeln. Ich gehöre zum Beirat. An unserer Besprechung Mitte April sagte ich, dass ich online gerne einen grösseren Hintergrund-Artikel über Papst Franziskus lesen würde. Die Reaktion der Redaktion: Weil vom und über den Papst in zahlreichen Medien so viel publiziert werde, müsse das Pfarrblatt dem nicht „hinterherhinken“, es gebe nichts Neues zu melden. Allein mit der Google-Suche würden im Internet in 0,53 Sekunden über 4 Millionen Ergebnisse zu „Papst Franziskus“ angezeigt. Ich musste beschämt erkennen, journalistisch nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein. Hätte ich vor meinem Wunsch klugerweise erst Google konsultiert, wäre ich im Beirat nicht als Naivling dagesessen! Das Pfarrblatt, das Berner Fachorgan in Sachen katholischer Kirche, kann ohne weiteres auf römische Hintergründe verzichten – wenn nicht gerade ein vatikanischer Skandal auffliegt oder aus der Schweiz ein Protest zu einer aktuellen Frage in „Rom“ deponiert wird.

Wie der Zufall so spielt, stiess ich in Europas Kulturzeitung Lettre International – in Nummer 132 vom Frühjahr 2021 – auf einen Text von Colm Tóibín, irischer Autor und Kenner des Katholizismus in Europa. Dessen Titel: „Das Lächeln Bergoglios“. Der Untertitel: „Vom peronistischen Jesuiten zum Heiligen Vater im Vatikan – eine Karriere“. Ursprünglich erschien Tóibíns Arbeit in der London Review of BooksLettre International liess sie übersetzen, sie umfasst acht grossformatige Seiten. Für ein lokales Pfarrblatt dürfte ein solcher Hintergrundtext wohl auch auf Online zu lang sein. Genau einen solchen Text hätte ich mir in der crossmedialen Fachpublikation Pfarrblatt jedoch gewünscht. Oder ist der Lebenslauf des Papstes bereits vielen bekannt, folglich nicht mehr interessant? Brauchen engagierte Katholik:innen von Erfahrungen und Prägungen eines jungen Priesters zu wissen, bevor dieser Karriere machte? Interessiert sich eine moderne Schweizerin, ein liberaler Schweizer für den bald 85-jährigen alten Mann aus Argentinien?

Der Artikel in Lettre international beginnt mit dem Prozess gegen die argentinische Militärjunta 1985 in Buenos Aires. 1976 putschte sich das Militär an die Macht und hielt sich bis 1982. Ich erinnere mich an jene Jahre, als aus Argentinien eine Schreckensmeldung nach der anderen Europa erreichte – und dazwischen, 1978, die Fussball-WM in Argentinien stattfand und Argentinien Weltmeister wurde. Es war die traurigste Fussball-WM aller Zeiten.
Colm Tóibín schreibt nicht über Fussball, er schildert Zeugenaussagen beim Prozess 1985, u. a. jene eines Gefängnisseelsorgers, der von keinen Folterungen wusste…
Im März 2013 wurde Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt. Tóibín fragte sich damals, was Bergoglio von 1976 bis 1982 machte und sagte. 36-jährig wurde Bergoglio 1973 der jüngste Provinzial im Jesuitenorden. Er galt als ultrakonservativ, ja als reaktionär. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 65) und die Befreiungstheologie in Südamerika interessierten ihn nicht. Die Kirchenleitung äusserte sich nicht zur Militärdiktatur. Auch Bergoglio hielt sich zurück, er erkannte nicht, wie er später selber sagte, was eigentlich vor sich ging. 1979 übernahm er das Rektorat des Jesuiten-Seminars. Doch der Orden war gespalten, der neue Provinzial kritisierte seinen Vorgänger scharf. 1990 wurde Bergoglio für zwei Jahre nach Córdoba ins Exil versetzt, dort praktizierte er zwar weiterhin „die Gnade des Schweigens“. Aber es ist denkbar, so schreibt Colm Tóibín, dass er in der Verbannung beschloss, sich zu ändern, weil er sein Fehlverhalten einsah. Oder verhielt er sich einfach als Konformist? Dies wäre eine andere Lesart.
Nachdem er 1992 unter dem peronistischen Erzbischof und Kardinal Quarracino zum Weihbischof ernannt wurde, rückte Bergoglio noch weiter von den Jesuiten ab (für mich eine neue Info). Als Papst bekannte er, in Argentinien „Hunderte von Irrtümern begangen zu haben, Irrtümer und Sünden“. Typisch für ihn war schon damals sein einfacher Lebensstil. Den lebte er auch als neuer Erzbischof. 1990 bat er öffentlich „um Vergebung für das komplizenhafte Schweigen des grössten Teils der Gesellschaft und der Kirche“. Langsam begann er, „seine Stimme zu erheben“. 1998 kritisierte er in Anwesenheit der Regierung jene, die sich bereichern und den sozialen Zusammenhalt zerstören. Ebenso bekamen die Regierungen unter Néstor Kirchner (ab 2003) und seiner Ehefrau Christina (ab 2007) ihr Fett ab. Bald besuchten die Kirchners seine Gottesdienste nicht mehr. Doch trotz mutiger Auftritte blieb er gemäss Beobachter ein Meister des Schweigens. Er lässt sich in keine Schublade pressen. Das sei typisch für einen Peronisten: er lasse sich nicht definieren, könne sowohl Reformer wie Konservativer sein.

Warum wählte das Konklave der Kardinäle am 13. März 2013 gerade den 76-jährigen Jorge Mario Bergoglio aus Buenos Aires zum Papst?
Austen Ivereigh, ein Autor mit Sympathien für den Argentinier, lieferte 2014 eine mögliche Antwort: „Er besass das politische Genie eines charismatischen Führers und die prophetische Heiligkeit eines Wüsteneinsiedlers“. Diese Kombination komme ganz selten vor. Und fasziniert in der aktuellen politischen Landschaft, in der ganz andere (Un)Tugenden zählen. Er vermag fast gleichzeitig … autoritär – anarchistisch – sanftmütig sein – für Argentinier:innen eben ein Peronist.
Was sprach ebenfalls für Bergoglio? Colm Tóibín meint: kein Theologe – nicht homosexuell – keine Ahnung von Prozeduren im Vatikan – Kontakt zu den Jesuiten auf Sparflamme – pastorale Erfahrung – kluger Finanzverwalter – befreundet mit Führern anderer Religionen – demütig.

Die Wahl zum Papst liess den alten Mann mit einer heiklen Vergangenheit fröhlich werden, fast wie neu geboren.
Seine ersten Worte auf der Loggia: „Buona sera!“ Und er lächelte. (Schluss des Blogs vom 30. April 2021)

PS: Als Papst wohnte Jorge Mario Bergoglio weder im Apostolischen Palast noch lässt er sich im Petersdom begraben. Irgendwie war und blieb er im Vatikan ein Fremder, einer, der in der Welt unterwegs war zu den Menschen.

 

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Morgenröte nach Vollmond – Ostern.1

Den ersten Frühlingsvollmond sehen wir nachts am Sonntag, 13. April, am Himmel. Nach alter Tradition wird am Sonntag darauf Ostern gefeiert, 2025 am 20. April. Ostern ist ein Frühlingsfest, in deutschsprachigen Regionen u.a. das alte Fest der germanischen Frühlingsgöttin Ostara, Göttin der Morgenröte. Der Ostermorgen wird auch in biblischen Texten erwähnt. Am «dritten Tag» kommen Frauen zum Grab Jesu, finden ihn dort aber nicht.

Viel zu meditieren
Die biblische Formel der Auferweckung Jesu fand bereits Eingang ins Glaubensbekenntnis der ersten Christ:innen. Es hat sich bis heute gehalten in Liturgie, Volksreligion und Kunst. Über Deutungen von Ostern jedoch wurde und wird meditiert, diskutiert, ja gestritten. Dies füllt Bibliotheken. Hier nur wenige Beispiele:

  • «Ostern – wir haben keine Gewissheiten, sondern nur die Hoffnung darauf, die Hoffnung nicht zu verlieren.»
  • «Hoffnung ist eine Form von Verblendung der Seele. Zugleich aber auch Quelle einer Kraft, die über den Einzelnen hinauswirkt. Vielen bleibt die Hoffnung, dass es ‘so’ nicht weitergehen wird / darf.»
  • «Das Osterereignis – ein aufrechtstehendes Fragezeichen».
  • «Was Ostern auch hätte sein können», zu diesem Satz notierte der Philosoph Peter Strasser: Die Grundstimmung des Christentums wäre eine ganz andere gewesen und geworden, hätte sich die Ansicht durchgesetzt, dass Jesus kein Leidensmann gewesen sei.

Im Zweiten Testament wie in der Kirchengeschichte gewann in den nachösterlich meditierten Leidensgeschichten Jesu der Leidensmann das stärkste Profil, dies besonders auf der Basis des Ersten Testamentes (siehe Deutero-Jesaja, Psalmen 22, 31, 69). Und das Kreuz, ein Folterwerkzeug, wurde zum Symbol des Christentum. Damit bekam als eindrückliches «Gegenzeichen» ein Verlierer grösstes Gewicht. Denn dieser wurde zum Sieger erklärt, eine starke und historische Zeitenwende.

Das Christentum beruhe auf einer «anthropologischen Verlustgeschichte», dem Sündenfall und der darauffolgenden Vertreibung aus dem Paradies im Ersten und der Passionsgeschichte im Zweiten Testament – so lautet eine der Deutungen. Damit es aber nicht beim schwer auszuhaltenden Verlust bleibe, dafür sorge das Versprechen vom künftigen Anbruch des Reiches Gottes. Solche Versprechen, verbunden mit «Ostererfahrungen», spielen später eine sinnstiftende Rolle auch bei säkularisierten Weltbildern, sagen Historiker:innen. In der westlichen Moderne trete das Fortschrittsnarrativ diskurslogisch an die Stelle des christlichen Glaubens.

Eine orientalische Religion
Eine erste Spur der biblischen Bibliothek führt zum griechischen System der Antike. Dieses war ein politisches Gesamtkunstwerk, von aussagekräftigen Mythen zusammengehalten inklusive der Himmelfahrt der griechischen Gottheiten.

Eine zweite Spur der biblischen Bibliothek führt auf die Sinaihalbinsel, nach Kleinasien, nach Mesopotamien, in den Bereich des Fruchtbaren Halbmonds. Dessen alte und grosse Kulturen blieben zwar für Europa unwichtig – nur die kleine randständige hebräische Kultur wirkte sich aus, zusammen mit Jahwe und seinem Kollektiv, dem auserwählten Volk. Dessen Geschichte war voller Dramen und Mythen. Jahwe wurde als politischer und monotheistischer Volks-Gott ein Gegenentwurf zu anderen polytheistischen Gottesvorstellungen, eine Kunst-Figur, eine perfekte Imagination, um eine neue Wirklichkeit in der Antike herzustellen.

Das Christentum ist eine orientalische Religion! Es versammelte Bausteine aus dem
gesamten Vorderen Orient und baute sie zu einer neuen Religion vor allem dort zusammen, wo sich heute die Türkei, Syrien und Israel ausbreiten. Jesus von Nazaret wurde bei seiner Transformation zu Jesus Christus geradezu ein versammelndes Brennglas altorientalischer Narrative. Das unschuldige göttliche Kind (bei Matthäus eine Parallele zu Moses) als Träger religiös-magischer Kraft war ein verbreiteter Topos im Alten Orient und im Hellenismus. Ebenso gängig waren Wunderlegenden um die Geburt grosser Männer. Die Auszeichnung als Gottessohn zirkulierte ohnehin im gesamten Orient bis hinauf zu den römischen Kaisern. Warum aber gelang der Geschichte eines kleinen Landstriches in der Levante der Sprung auf die «Weltbühne» ins Römische Reich?

Sympathien für Verlierer und Opfer
Dank des Zusammenspiels einer dominanten (griechischen) und einer innovativen Kultur (in der hebräischen Diaspora) entstand interkulturelle Power. Alttestamentliche Geschichten wurden wie neutestamentliche griechisch übersetzt oder neu verfasst und damit anschlussfähig an den Mainstream. Der Schmelztiegel der Grossstadt Alexandria in Ägypten erwies sich als neues irdisches «Jerusalem». In der hellenistisch-ägyptischen Übersetzungsmetropole mit seiner Weltwissensbibliothek entwickelte sich ein neuer Typus von Identifikationsfigur, ein Sympathieträger. Und das Judentum reagierte unter dem Druck des Hellenismus mit einer zukunftsträchtigen Variante.

Neue Texte müssen nun Sympathien für den Verlierer, für das Opfer zeigen. Zum Beispiel: «Der Held liebt DICH!» Und: «Alles wird gut!» Und: «Seine Geschichte ist Deine Geschichte.» Dabei spielen Frauen eine wichtige Rolle. Und: «Du sollst keine Angst vor dem Tod haben.» Und: «Der Held ist so unglücklich wie Du.»

Christus (!) zeigt sich zuerst in der schriftlich formulierten Perspektive des Paulus aus Tarsus. Dieser ist Jude, Römer und Christ zugleich. In später überlieferten Evangelien und  in weiteren Schriften kommt Christus auch als Leidensmann, Magier, Charismatiker, endzeitlicher Todesüberwinder, als personifizierte Weisheit daher. Die «Auferweckung von den Toten», die Ostererfahrung, wurde via spätjüdische Apokalyptik zur zentralen Botschaft des Neuen Testaments – eine geniale Erfindung laut Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer. Die Deutung des Todes Jesu als Sühne- und Opfertod zitiert ein in augusteischer Zeit auflebendes altes Motiv aus griechischen Heroensagen. Erst die Symbiose von jüdischer Tradition, orientalischen Narrativen und griechischem Erbe, darunter die griechische Philosophie, erzeugte im Umkreis von Stephanus und Paulus, etwa eine Generation nach Jesus, eine neue religiöse Identifikation. Man nannte die Anhänger:innen des Juden Jesus, genannt Christus, jetzt Christinnen und Christen.

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Ein Verlierer wird zum Sieger erklärt – Ostern.2

Als Theologe befasste ich mich lange mit theologischen Interpretationen von (biblischen) Texten. Dank mancher Reisen in den Nahen Osten und dank literarischer Zugänge zu kulturellen Umfeldern der biblischen Bibliothek wurden mir weitere Verständnishilfen zuteil. Speziell erwähne ich hier den Dichter Vergil mit seinem Werk Aeneis.

Es ist wohl kein Zufall, dass sich um die Zeitenwende in Rom – weit weg von Israel-Palästina – eine nicht ganz unähnliche generationsübergreifende Kooperation zwischen «Vater» und «Sohn» (wie später theologisch mit Gottvater und Gottsohn) anbahnt, mit dem erklärten Ziel, eine neue europäische Weltmacht zu kreieren, das Imperium Romanum. Dessen Protagonist: Aeneas, ein geflüchteter Trojaner.

Der römische Dichter und Epiker Vergil (70-19) schickt sich in der Zeit von Kaiser Augustus (63 v.u.Z. – 14 n.u.Z.) und wohl in dessen Auftrag an, dem Schicksal einiger Trojaner in den Jahren nach der tatsächlichen oder mythischen Katastrophe in Troja nachzugehen. Sein Interesse gilt aber dem neuen Troja – also Rom. Damals war Rom zwar bereits eine Metropole und die Hauptstadt eines Weltreiches. Sie benötigte aber noch eine eigene Gründungslegende. Rom galt als Ableger Griechenlands oder als Nachfolger des alt-etruskischen Königsreichs, folglich konnte es sich nichts Spezielles einbilden.

Vergil – wichtigster Autor der römischen Antike – (er-)fand mit der Aeneis eine Geschichte eines umfassenden Planes: er liess die Römer sich mit der Verliererseite, den Trojanern, identifizieren. Er setzte ein eigenständiges Gebilde gegen Griechenland, gegen die Sieger!

Aeneas, der Protagonist der Aeneis, war immerhin ein Sohn der Aphrodite / Venus und neben Hektor der hervorragendste Kämpfer im trojanischen Heer. Er rettete seinen Vater und floh auf Umwegen in einer Irrfahrt in ein neues Troja, eben nach … Rom. Die Erzählung der Aeneis ist im 8. Jahrhundert angesiedelt, der Erzähler lebt 700 Jahre später im 1. Jahrhundert v.u.Z. So ist alle Zukunft bereits gesicherte Vergangenheit – typisch antike Geschichtsschreibung, wie sie auch in der biblischen Bibliothek praktiziert wurde, eine «invention of tradition», eine Geschichtsmontage. Aeneas wird in einer Heroensage der erste König von «Alba Longa», neben Rom gelegen. Rom bekommt somit eine eigene Geschichte in einer beeindruckenden Traditionslinie – ein narrativer Handstreich! Starke Literatur.

Parallelen zwischen Aeneas und Christus
Es gibt mindestens sieben literarische Parallelen zwischen der «Aeneis» von Vergil und den später verfassten Evangelien, insbesondere in der Darstellung von Aeneas und Christus. Beide Figuren werden als zentrale Protagonisten ihrer jeweiligen Geschichten dargestellt. Sie verkörpern wichtige Themen wie Opfer, Bestimmung und Gründung einer neuen Ordnung. Es ist anzunehmen, dass die (unbekannten) neutestamentlichen Autoren das Werk Vergils kannten.

  • Schicksal und Bestimmung: Sowohl Aeneas als auch Christus werden eine göttliche Bestimmung zugeschrieben. Aeneas wird von den Göttern auserwählt, um das römische Volk zu gründen, während Christus als der göttliche Messias kommt, um die Menschheit zu erlösen.
  • Opfer: Aeneas zeigt oft die Bereitschaft, persönliche Opfer zu bringen, um sein Schicksal zu erfüllen, ähnlich wie Christus, der sein Leben für die Sünden der Menschheit opfert.
  • Führung und Vorbild: Beide Figuren fungieren als Führer. Aeneas führt die Trojaner nach Italien in die Gegend von Rom, während Christus seine Anhänger:innen auf den «Weg des Glaubens» führt – und Paulus, sein grosser Missionar und «der letzte der Apostel», wird ebenfalls in einer Irrfahrt nach Rom gefahren.
  • Wunder und übernatürliche Elemente: In beiden Erzählungen gibt es übernatürliche Eingriffe. Aeneas erhält Unterstützung von Göttern, während Christus Wunder vollbringt und damit göttliche Autorität demonstriert.
  • Themen der Hoffnung und Erlösung: Beide Geschichten thematisieren Hoffnung und die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Aeneas’ Reise ist eine Suche nach einer neuen Heimat, während die Evangelien die Hoffnung auf ewiges Leben und Erlösung durch Christus vermitteln.
  • Kaiser Augustus: Jesus wird im Lukas-Evangelium zur Zeit von Kaiser Augustus geboren. (Der Begriff Evangelium / euangelion / gute Nachricht stammt aus der Kaiserverehrung.) Vergil soll im Auftrag von Kaiser Augustus die Aeneis schreiben.
  • Spezieller Ort: in der Aeneis wird Troja zum Ausgangsort für das spätere grosse Imperium Romanum. Für Christen ist Jerusalem ein ganz spezieller heiliger Ort, das gilt auch für Juden und Muslime.

Solche Parallelen zeigen, wie literarische und religiöse Traditionen miteinander verwoben werden und wie sie universelle Themen des menschlichen Erlebens ansprechen. Am Beispiel derAeneis lässt sich erkennen, dass Kunst, Kultur und Politik im alten Rom in enger Verbindung standen. Rom nimmt Elemente der griechischen Kultur an und bemächtigt sich der mythischen, technischen, planerischen Fähigkeiten wie Theater, Arena, Baukunst, Lyrik, Plastik, Malerei usw. Griechische Künstler zogen nach Rom in den neuen Brennpunkt des Reiches – Rom «versank» im Hellenismus, verstand sich dank der Aeneis als Troja.2. Und die katholische Kirche nannte sich nach dem Untergang des weströmischen Kaisertums ab spätem 5. Jahrhundert römisch-katholische Kirche. So behauptete sie sich in Rom.2 als Nachfolgerin eines ehemals grossen und mächtigen Reiches,  jetzt mit österlichem Ursprung in Jerusalem.

Geniessen Sie den Frühlingsvollmond am 13. April sowie schöne Frühlingstage!

 

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Freude und Freundschaft

Dieses Blog liegt einmal mehr quer in der Landschaft. Aktuell – ich schreibe diesen Text am 6. März 2025 – dominieren Themen wie massive militärische Aufrüstung in Europa, riesige Schuldenpakete in Deutschland, langweilige Bundesratswahlen in der Schweiz sowie ein wirrer Aktionismus der US-Administration in Washington. Absagen an bisherige Freundschaften, Unsicherheit, Angst vor grösseren Umwälzungen, Hilflosigkeit trotz vieler Konferenzen – Fragezeichen über Fragezeichen. Trotz sonniger Frühlingsgefühle und spriessender Blumen liegt dichter Nebel über weiten Teilen der Erde.

Eine ökologische Ethik entwickeln
Und ich verweise auf das Buch von Philipp Blom mit dem Titel «Die Unterwerfung. Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur». Es wurde vor 3 Jahren veröffentlicht. Gehört das Jahr 2022 bereits zu einer anderen Zeit? Vor die oft zitierte Zeitenwende? Nein, so schnell geht es nicht. Philipp Blom schrieb ein Plädoyer für eine ökologische Ethik. Für mich ist es auch heute bedenkenswert – und morgen wohl ebenso. In Teil III, «Kosmos», ermuntert er, auf neue Bausteine des Denkens zu bauen und einige bisherige wegzulassen. Ich fasse sein Plädoyer hier auf 10 Seiten zusammen. Dass die Dimension einer veränderten Kultur im Lärm von «Man müsste jetzt», Machtphantasien, Kriegsängsten und Schuldenwirtschaft wenig zählt, ist mir schon klar. Trotzdem.

Epikur motiviert zu Gelassenheit
Und ich verweise auf einen Philosophen aus einer wirklich anderen Zeitepoche. Er lebte von 341 bis 271/270 vor unserer Zeitrechnung im antiken Griechenland. Sein Name: Epikur von Samos. Er wirkte am Anfang des sogenannt hellenistischen Zeitalters, das von 323 bis 30 dauerte. Leider seien seine meisten Hauptschriften verloren gegangen, heisst es. Man kennt ihn fast nur aus Werken anderer Philosophen, die über ihn diskutierten. Dennoch gibt es Briefe und Hauptlehrsätze aus einer Spruchsammlung.

Epikurs Philosophie will negative Emotionen minimieren, indem Menschen ein Leben in Gelassenheit und Zufriedenheit anstreben. Sie inspiriert zu Lebenskunst. Ruhe und Mässigung sind Faktoren, um in alltäglichen Dingen Glück zu erfahren sowie Schmerz und Angst zu überwinden. Freundschaft bildet einen zentralen Wert in Epikurs Philosophie. Denn starke Beziehungen und gegenseitige Unterstützung führen zu Lebensfreude, sagte er.

Garten versus Grosskonzern
Doch gerade der Grosskonzern katholische Kirche hatte an Epikur gar keine Freude. Er zeigte nämlich keine Angst vor Göttern, denn diese hätten kein Interesse, sich in Angelegenheiten der Menschen einzumischen. Ihre Abwesenheit sei daher ein Aufruf, mit eigenen Mitteln nach Ordnung und Stabilität zu suchen. Zudem machte er sich keine Sorgen um den Tod. Nach dem Tod sei ja alles aus, daher zähle dieser nichts. Das alles lag quer zur offiziellen römisch-katholischen Lehre. Auch ein dritter Punkt gab Anlass zu Reibungen: Gutes sei leicht zu erreichen, meinte der Philosoph. Essen und Trinken seien unerlässlich fürs Überleben und Wohlbefinden des Körpers. Nichts mit Fasten! Nichts mit Jammertal! Natürlich gebe es schmerzhafte Erfahrungen. Doch sie seien meist flüchtig und im Vergleich zum ganzen Leben kurz. Falls Schmerzen vorkommen, soll sich der Mensch auf angenehme Erfahrungen konzentrieren und körperliches Unbehagen durch geistige Freude ausgleichen. Heute heisst dies Resilienz.

Als weder notwendig noch natürlich erachtet Epikur Bedürfnisse und Wünsche nach Macht, Geld und Ruhm. «Man muss sich aus dem Gefängnis der Geschäfte und der Politik befreien», notiert er. Damit liegt sein Gedankengut quer zu manchen Vorstellungen von Glück. Seine Philosophie soll auf Erfahrungen in einer ländlichen Umgebung basieren und damit auf dem engen Kontakt mit der Natur. Kein Zufall ist es, dass seine Schule als «der Garten» bekannt war. In seinem Garten vermischten sich philosophische Diskussionen mit dem Anbau von Pflanzen und Gemüse – und dies in einer Atmosphäre der Freundschaft. Auch ein letzter Gedanke passt zum «Garten»: ein weiser Mensch strebe nicht nach dem Beifall der Massen, sondern lebe verborgen. Tatsächlich ein Blog, das quer in der Landschaft liegt.

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