«Buona sera!» waren die ersten Worte, mit denen der neue Papst Franziskus am 13. März 2013 die Menschen auf dem Petersplatz in Rom und vor den TV-Bildschirmen in aller Welt («urbi et orbi») begrüsste. Er bat sie um ihren Segen und um ihr Gebet für ihn. Am Ostermontag 2025, am 21. April, starb er 88-jährig. Heute sind die Medien voll mit Berichten und Kommentaren über seine Amtszeit. Ich wiederhole hier zwei Blogs von mir, einen vom 14. März 2018 und einen vom 30. April 2021.
Mehr als fünf Jahre
Der 13. März 2013 ist der Tag der Wahl von Jorge Mario Bergolio zum Papst.
Der 4. Oktober 1226 ist der Tag des Todes von Giovanni Battista Bernardone.
Beide kennt man unter dem Künstlernamen Franziskus. Beide sind Lebenskünstler. Der eine kommt von Buenos Aires und sagt zuerst: Buona sera! Der andere kommt von Assisi und sagt immer wieder: Pace e bene!
Der eine spielt in San Damiano das Kirchenbauspiel. Im zerfallenden Kirchlein hört er eine Stimme zu ihm sprechen: „Bau mir die Kirche wieder auf!“ Der andere spielt im Vatikan das Kirchenumbauspiel. Das Wahlgremium der Kardinäle hat ihn dazu beauftragt nach einer flammenden Rede.
Beide merken, dass es nicht so einfach geht. Doch beide sind ver-rückt, Narren Gottes. Sie lassen sich von Gegenspielern nicht abhalten. Beide leben in Zeiten von Umbrüchen. Beide bringen in ihrem neuen Leben Aspekte ein, die vom Mainstream der jeweiligen Leitkultur übersehen, ja verdrängt werden.
Francesco von Assisi zeigte als Laie, der er zeitlebens blieb, dass in seiner Bruderschaft und später bei der Entstehung seines Ordens Hierarchie und Prälatur unbedeutend sind. Er unterstützte gleichgesinnte Frauen, Klara von Assisi ist die bekannteste. Francesco sprach und sang vom fröhlichen Gesicht und vom Lachen eines Menschen, der weiss, dass Gott Freude ist. Franziskus und die Franziskaner entschieden sich für das Sprechen in kleinen Städten, die damals im 12./13. Jahrhundert entstanden. Sie waren viel unterwegs, einige von ihnen bis China. Für ihr Erzählen suchten sie neue Plätze der Kommunikation. Nicht der Kirchenraum war ihnen wichtig, sondern der öffentliche Platz, der Marktplatz. Franziskaner wollten keine eigenen Kirchen besitzen, sondern durch ihr Auftreten in der Stadt und bei den Menschen zuhause neue Kommunikationsräume schaffen. So prägten sie eine vorher unbekannte Lebensvorstellung. Halb Laie, halb Mönch, verschrieb sich Francesco einem Lebensstil der Einfachheit, des Unten aus einem starken Selbstwertgefühl heraus und des Redens am Rand der offiziellen Kirche. Seine Liebe galt allen Menschen, allen sozialen Milieus, allem Lebendigen. Der Sonnengesang ist nur ein Zeugnis dafür. Francesco verkörpert bis heute Wandel und Aufbruch. Er sammelt Blinde, Lahme, Stumme, Verachtete, Bettler, Sünder und Tote, damit sie in der Begegnung mit Gott ungeahnte Wunder erleben.
Im Konklave zur Papstwahl betonte Kardinal Jorge Mario Bergoglio, Evangelisierung setze Eifer und kühne Redefreiheit voraus, damit sie aus sich selbst herausgehe nicht nur an die geografischen Ränder, sondern an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, des Schmerzes, der Ungerechtigkeit, der Ignoranz, der fehlenden religiösen Praxis, des Denkens und jeglichen Elends. Als Papst warnt er immer wieder vor einer egozentrischen Kirche. Ihm ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, wichtiger als eine Kirche, die sich in sich verschliesst: „Mir ist eine Kirche lieber, die etwas falsch macht, weil sie überhaupt etwas tut, als eine Kirche, die krank wird, weil sie sich nur um sich selbst dreht.“ Er passt nicht in von diesem oder von jener vorgefertigte Schablonen hinein.
Eigentlich wollte der Jesuit aus Argentinien fünf Jahre lang Papst sein. Von dieser Beschränkung ist bei ihm keine Rede mehr, obwohl er nun im 82. Lebensjahr steht.
Das Kirchenumbauspiel ist in vollem Gang. Ein paar neue Steine genügen nicht wie noch am Kirchlein von San Damiano. Franziskus braucht als Papst geistvolle Mitspielerinnen und Mitspieler mit langem Atem, mit grosser Freude, mit engagierter Gelassenheit für mehr als fünf Jahre. (Schluss des Blogs vom 14. März 2018)
Charismatiker und Wüsteneinsiedler
Die Redaktion des Berner Pfarrblatts sitzt regelmässig mit ihrem Beirat zusammen, aktuell via Zoom, um die letzten Print-Nummern und spezielle Online-Beiträge kritisch zu beleuchten sowie um Ideen für neue Artikel zu sammeln. Ich gehöre zum Beirat. An unserer Besprechung Mitte April sagte ich, dass ich online gerne einen grösseren Hintergrund-Artikel über Papst Franziskus lesen würde. Die Reaktion der Redaktion: Weil vom und über den Papst in zahlreichen Medien so viel publiziert werde, müsse das Pfarrblatt dem nicht „hinterherhinken“, es gebe nichts Neues zu melden. Allein mit der Google-Suche würden im Internet in 0,53 Sekunden über 4 Millionen Ergebnisse zu „Papst Franziskus“ angezeigt. Ich musste beschämt erkennen, journalistisch nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein. Hätte ich vor meinem Wunsch klugerweise erst Google konsultiert, wäre ich im Beirat nicht als Naivling dagesessen! Das Pfarrblatt, das Berner Fachorgan in Sachen katholischer Kirche, kann ohne weiteres auf römische Hintergründe verzichten – wenn nicht gerade ein vatikanischer Skandal auffliegt oder aus der Schweiz ein Protest zu einer aktuellen Frage in „Rom“ deponiert wird.
Wie der Zufall so spielt, stiess ich in Europas Kulturzeitung Lettre International – in Nummer 132 vom Frühjahr 2021 – auf einen Text von Colm Tóibín, irischer Autor und Kenner des Katholizismus in Europa. Dessen Titel: „Das Lächeln Bergoglios“. Der Untertitel: „Vom peronistischen Jesuiten zum Heiligen Vater im Vatikan – eine Karriere“. Ursprünglich erschien Tóibíns Arbeit in der London Review of Books. Lettre International liess sie übersetzen, sie umfasst acht grossformatige Seiten. Für ein lokales Pfarrblatt dürfte ein solcher Hintergrundtext wohl auch auf Online zu lang sein. Genau einen solchen Text hätte ich mir in der crossmedialen Fachpublikation Pfarrblatt jedoch gewünscht. Oder ist der Lebenslauf des Papstes bereits vielen bekannt, folglich nicht mehr interessant? Brauchen engagierte Katholik:innen von Erfahrungen und Prägungen eines jungen Priesters zu wissen, bevor dieser Karriere machte? Interessiert sich eine moderne Schweizerin, ein liberaler Schweizer für den bald 85-jährigen alten Mann aus Argentinien?
Der Artikel in Lettre international beginnt mit dem Prozess gegen die argentinische Militärjunta 1985 in Buenos Aires. 1976 putschte sich das Militär an die Macht und hielt sich bis 1982. Ich erinnere mich an jene Jahre, als aus Argentinien eine Schreckensmeldung nach der anderen Europa erreichte – und dazwischen, 1978, die Fussball-WM in Argentinien stattfand und Argentinien Weltmeister wurde. Es war die traurigste Fussball-WM aller Zeiten.
Colm Tóibín schreibt nicht über Fussball, er schildert Zeugenaussagen beim Prozess 1985, u. a. jene eines Gefängnisseelsorgers, der von keinen Folterungen wusste…
Im März 2013 wurde Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt. Tóibín fragte sich damals, was Bergoglio von 1976 bis 1982 machte und sagte. 36-jährig wurde Bergoglio 1973 der jüngste Provinzial im Jesuitenorden. Er galt als ultrakonservativ, ja als reaktionär. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 65) und die Befreiungstheologie in Südamerika interessierten ihn nicht. Die Kirchenleitung äusserte sich nicht zur Militärdiktatur. Auch Bergoglio hielt sich zurück, er erkannte nicht, wie er später selber sagte, was eigentlich vor sich ging. 1979 übernahm er das Rektorat des Jesuiten-Seminars. Doch der Orden war gespalten, der neue Provinzial kritisierte seinen Vorgänger scharf. 1990 wurde Bergoglio für zwei Jahre nach Córdoba ins Exil versetzt, dort praktizierte er zwar weiterhin „die Gnade des Schweigens“. Aber es ist denkbar, so schreibt Colm Tóibín, dass er in der Verbannung beschloss, sich zu ändern, weil er sein Fehlverhalten einsah. Oder verhielt er sich einfach als Konformist? Dies wäre eine andere Lesart.
Nachdem er 1992 unter dem peronistischen Erzbischof und Kardinal Quarracino zum Weihbischof ernannt wurde, rückte Bergoglio noch weiter von den Jesuiten ab (für mich eine neue Info). Als Papst bekannte er, in Argentinien „Hunderte von Irrtümern begangen zu haben, Irrtümer und Sünden“. Typisch für ihn war schon damals sein einfacher Lebensstil. Den lebte er auch als neuer Erzbischof. 1990 bat er öffentlich „um Vergebung für das komplizenhafte Schweigen des grössten Teils der Gesellschaft und der Kirche“. Langsam begann er, „seine Stimme zu erheben“. 1998 kritisierte er in Anwesenheit der Regierung jene, die sich bereichern und den sozialen Zusammenhalt zerstören. Ebenso bekamen die Regierungen unter Néstor Kirchner (ab 2003) und seiner Ehefrau Christina (ab 2007) ihr Fett ab. Bald besuchten die Kirchners seine Gottesdienste nicht mehr. Doch trotz mutiger Auftritte blieb er gemäss Beobachter ein Meister des Schweigens. Er lässt sich in keine Schublade pressen. Das sei typisch für einen Peronisten: er lasse sich nicht definieren, könne sowohl Reformer wie Konservativer sein.
Warum wählte das Konklave der Kardinäle am 13. März 2013 gerade den 76-jährigen Jorge Mario Bergoglio aus Buenos Aires zum Papst?
Austen Ivereigh, ein Autor mit Sympathien für den Argentinier, lieferte 2014 eine mögliche Antwort: „Er besass das politische Genie eines charismatischen Führers und die prophetische Heiligkeit eines Wüsteneinsiedlers“. Diese Kombination komme ganz selten vor. Und fasziniert in der aktuellen politischen Landschaft, in der ganz andere (Un)Tugenden zählen. Er vermag fast gleichzeitig … autoritär – anarchistisch – sanftmütig sein – für Argentinier:innen eben ein Peronist.
Was sprach ebenfalls für Bergoglio? Colm Tóibín meint: kein Theologe – nicht homosexuell – keine Ahnung von Prozeduren im Vatikan – Kontakt zu den Jesuiten auf Sparflamme – pastorale Erfahrung – kluger Finanzverwalter – befreundet mit Führern anderer Religionen – demütig.
Die Wahl zum Papst liess den alten Mann mit einer heiklen Vergangenheit fröhlich werden, fast wie neu geboren.
Seine ersten Worte auf der Loggia: „Buona sera!“ Und er lächelte. (Schluss des Blogs vom 30. April 2021)
PS: Als Papst wohnte Jorge Mario Bergoglio weder im Apostolischen Palast noch lässt er sich im Petersdom begraben. Irgendwie war und blieb er im Vatikan ein Fremder, einer, der in der Welt unterwegs war zu den Menschen.