Mit 66 Jahren notierte ich zum 6. Buchstaben des Alphabets, dem F, spontan und spielerisch 66 aus meiner Sicht persönliche „Seinsarten“ (etwas altklug ausgedrückt) zur berühmten Frage des Philosophen Richard David Precht: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“
Unter den 66 Seinsarten finden sich: Fussballfan – Felsenkletterer – Fussgänger – Frischgedrucktezeitungenleser – Fahrradfahrer – Fernwehträumer – Flugzeugbenutzer – Familienfestgeniesser – Fertiggerichtaufwärmer – Federerschauer – Filosof – Fachtexteschreiber – Funktionswäscheträger – Facebookverweigerer – Feldwaldundwiesentheologe – Federballspieler – Freieroberthurgauer – Fehlermacher – Füdlibürger – Fragmentarist usw.usf.
Ich könnte auch andere Buchstaben wählen, neue Aufzählungen starten. Mein „Ich“ ist damit komplex, vielfältig, mehrdimensional, uneindeutig. Machen Sie diese kleine Übung zu Ihren Identitäten einmal für sich.
Identitätspolitik ist zur Zeit ein grosses Reizwort. In den Medien verfolge ich heisse, emotionale Debatten da. Neu stellt, zum Beispiel, das Onlinemagazin „Republik“ ein Dossier zum Thema zur Verfügung. In der NZZ von heute kritisiert eine Soziologin „die neue Wir-gegen-die-Mentalität“, bei der Menschen nach einem starren Schema in Träger von Opfer- und Schuldidentitäten eingeteilt werden. Vor 10 Tagen schrieb ein Schriftsteller ebenfalls in der NZZ: „Eines Morgens erwache ich – und bin ‚rechts‘.“ Weil er Identitätspolitik für einen Irrweg hält, wird er, der sich als kritischer Intellektueller versteht, von „links“, von sogenannt „progressiven“ Kreisen, als „Rechter“ bezeichnet. Eine Fremdzuschreibung. Eine Rollenzuweisung.
Was heisst das für Selbstbestimmungschancen von Individuen?
Ich weiss, Selbstbestimmung und zugewiesene Identität bilden ein weites Feld. Dazu eine lustige Anekdote. Wir sassen kürzlich in einer SAC-Hütte zusammen, eine zufälligerweise zusammengewürfelte Tischgemeinschaft. Ein jüngeres Pärchen siezte mich. Ich erwiderte, hier oben würden sich Bergsteiger*innen duzen. Okay. Als sich die Frage nach meinem Beruf stellte und ich mit „Pfarrer“ antwortete, fiel das Pärchen reflexartig ins Sie zurück. Ich beharrte auf dem „Du“. Hätte ich „Hilfsarbeiter“ oder „Schuhmacher“ gesagt, wäre sicher kein „Sie“ gekommen. Dabei arbeitete ich nur einige Jahre als Pfarrer bzw. als Gemeindeleiter, wie meine Funktion in Köniz und Burgdorf präzis lautete. Wenn ich mit „Journalist“ antworte, verlaufen Gespräche in eine andere Richtung.
Ich habe mit einer Identitätspolitik, die eine „ethnisierte“ Symbolpolitik betreibt und mit Opfer-Narrativen arbeitet, Mühe. Natürlich und kultürlich existieren Unterschiede (positiv) und Ungerechtigkeiten (negativ).
Bekanntlich greife ich gern auf die Kultursoziologie zurück (siehe Soziale Milieus zeigen Abgrenzungen). Dabei wird eine andere Sprache gebraucht, weder gewertet noch moralisiert. Von solchen Diskussionen höre ich jedoch wenig. Man müsste ja differenzieren. Vielfalt anerkennen. Uneindeutiges stehen lassen. Sich selber zurücknehmen. Keinem naiven Realismus Platz geben.
Und Buchstabenreihen fortführen. Ich bin A wie Arboner, B wie Bergsteiger, C wie Chinareisender, D wie DAB-Radio-Einschalter, E wie Eisenleger, F wie siehe oben, und so weiter und so fort.