Zeitenwende. Bei uns in der Familie. Im Oktober 1979 kam in Bern unser erstes Kind auf die Welt. Poetisch formuliert: Unsere kleine Welt wurde vom Kopf auf die Füsse gestellt. Es begann eine neue Zeitrechnung. Während des ganzen Jahres, bereits während der Schwangerschaft, drehte sich ganz viel um die für uns ungewohnte Situation. Bei der Geburt war ich dabei und durfte unseren Sohn zum ersten Mal waschen. Wenn ich Fotos von damals anschaue, spüre ich Freude und Stolz. In diesem Oktober wird er 40 Jahre jung. Zwanzig Monate nach dem Oktober 1979 und darauf 23 Monate später bekamen wir zwei Töchter geschenkt.
Zeitenwende. So lautet der Titel eines Buches von Frank Bösch. Der genaue Titel: „Zeitenwende. 1979. Als die Welt von heute begann.“
Sowohl im Kleinen in unserer Familie als auch im Grossen ereignete sich 1979 Weltbewegendes. Frank Bösch zählt 10 politische Wendepunkte auf und verknüpft die meisten mit deutschen Entwicklungen. Einige der geschilderten Ereignisse berühren mich persönlich, da wir auf Reisen sowie beruflich Nachwirkungen von Umbrüchen begegnet sind.
Im Jahr 2014 besuchten wir den Iran, trafen gastfreundliche Menschen und staunten über grosse kulturelle Schätze. Allein die Stadt Isfahan war die Reise wert. Aber auch biblisch-alttestamentliche Bezüge erlebten wir vor Ort in Susa (Verehrung des legendarischen Grabes von Daniel, eine Kult-Ätiologie), Hamadan/Ekbatana (Wohnort der Magier) oder am Grab von König Kyros II. dem Grossen in Pasargadae. 1979 fand die Iranische Revolution unter Ayatollah Khomeiny statt. Bis heute ist der Iran nicht aus den Schlagzeilen der Medien verschwunden. Fast täglich hören wir von Spannungen, Interessenkonflikten und zunehmender Armut im Land. Der islamische Fundamentalismus fordert seit 1979 die Welt heraus. Konstruktive Antworten fehlen. Frieden ist, leider, nicht in Sicht.
Im Januar 1979 trat Papst Johannes Paul II. seine erste Auslandsreise an. Sie führte ihn nach Mittelamerika. Seine zweite Reise ging im Juni 1979 für 9 Tage in sein Heimatland Polen. Sie dürfte wohl die wichtigste seiner 104 Reisen gewesen sein. Ungefähr 10 Millionen Menschen empfingen ihn auf den Strassen. Sie gaben Protesten so viel Schwung, dass nicht nur Polen verändert wurde. Ich habe das Pontifikat von JP II., wie er auch genannt wurde, als Redaktor des Bieler Pfarrblattes kritisch begleitet und immer wieder auf seinen Hintergrund, seine Denkweise aufmerksam gemacht. Sein wohl grösster Wunsch – ein Besuch in Moskau – ging jedoch nicht in Erfüllung. Immerhin traf ihn Gorbatschow im Vatikan zum Vier-Augen-Gespräch.
2019 feiern Staat und Partei 70 Jahre Volksrepublik China. In diesem und im letzten Jahr waren Rosmarie und ich zweimal dort: in Tibet und an der Ostküste in drei grossen Städten. 2004 bereisten wir das Land ein erstes Mal. Starke Gegensätze und Ambivalenzen blieben jeweils als Eindrücke haften. Wir erlebten auch den Stolz der jungen Leute auf das in den letzten Jahren Erreichte. Ein schweizerisch geprägtes Weltbild hat Mühe, China nur einigermassen zu verstehen. 1979 begann sich das „Reich der Mitte“ unter Deng Xiaoping zu öffnen. Ökonomische Reformen dauern bis heute an. Spannungen zwischen Wirtschaftspartnern trotz Menschenrechtsverletzungen ebenfalls. Wird die Globalisierung China zu einer anderen Politik bringen? Eine offene Frage.
In weiteren Kapiteln zu Umwälzungen im Jahr 1979 befasst sich Frank Bösch mit der Revolution in Nicaragua, mit den Boat People aus Vietnam, mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan (Umbruch im Kalten Krieg) sowie mit der Wahl von Margaret Thatcher in England (Stichwort Neoliberalismus) und der Gründung der Grünen in Deutschland (Ökologie).
Der Autor widmet ein Kapitel der zweiten Ölkrise, die in Europa zur Rezession führte. Sie zeigte globale Abhängigkeiten auf und gleichzeitig Wege zum Energiesparen. Auch der AKW-Unfall bei Harrisburg (USA) wird thematisiert und damit verbunden die Angst vor der Atomkraft. Das 10. und letzte Kapitel nimmt Deutschland in den Fokus. Die Fernsehserie „Holocaust“ habe nach einem „Geschichtssturm“ eine neue Erinnerungskultur eingeleitet.
Manches von 1979 ist in seinen Auswirkungen präsenter, anderes schon lange „vergessen“. Zwei Hauptlinien bleiben möglicherweise im Bewusstsein: eine religiöse Renaissance sowie eine Festigung autoritärer Herrschaft. Folgen davon veränderten und verändern die grosse Welt bis heute.
Unsere kleine familiäre Welt zeigt sich 40 Jahre nach 1979 lebenswert: Happy birthday, Simon! Herzliche Gratulation allen, die in diesen Wochen ebenfalls ihren 40. feiern dürfen!