Ich verstehe nur Bahnhof

Zwei spazieren durch den Berner Hauptbahnhof. Der eine redet auf den anderen ein, energisch gestikulierend, mit lauter Stimme. Da sagt der andere plötzlich: „Sorry! Ich verstehe nur Bahnhof.“ Der erste stutzt – dann lacht er. Und ich muss schmunzeln.

„Ich verstehe nur Bahnhof“ meint, dass ich nichts von dem verstehe, was der andere sagt und meint. Oder dass ich keine Lust habe, auf seine Ausführungen einzugehen. Die Redewendung ist bekannt und verbreitet. Sie dürfte wohl auf den Schluss des Ersten Weltkrieges zurückgehen. Als Soldaten damals erschöpft entlassen wurden, dachten sie nur an den Bahnhof, ab dem sie im Zug die Fahrt nach Hause beginnen konnten. Alles andere interessierte sie nicht mehr. Der Bahnhof: damals ein heiss ersehnter Wendepunkt im persönlichen Schicksal.
Nun setzt die Redewendung, fast poetisch, formuliert den Schwerpunkt auf „Ich verstehe nichts von dem, was du sagst“. Andere Zeit, andere Deutung.
Heute bringe ich eine dritte Variante ins Spiel, wie sich der Begriff „nur Bahnhof verstehen“ auch interpretieren liesse: bildlich gesprochen als eine Methode der Weltanschauung.

Zuerst jedoch ein Einschub: Als Zugfahrer sehe und begehe ich zahlreiche Bahnhöfe. Am meisten benutze ich den Hauptbahnhof von Bern und jenen von Zürich. Die beiden werden in der Schweiz am stärksten frequentiert. Zürich zählte – vor der Corona-Pandemie – täglich rund 460’000 Passagiere, Bern rund 200’000. In den nächsten Jahren soll in der Schweiz, gemäss Prognosen vor Corona, die Zahl der Zugpendler:innen stark zunehmen. Ob es tatsächlich so kommen wird? Jedenfalls wird der Berner Hauptbahnhof in Etappen um- und ausgebaut, damit man in zwanzig Jahren den erwarteten Ansturm meistern kann. Jener in Zürich wurde bereits auf vier Etagen (inkl. SZU) erweitert.
Die Zahlen aus Bern und Zürich wirken fast idyllisch, wenn ich sie mit zwei anderen vergleiche. Die Victoria-Station, Weltkulturerbe der UNESCO, in Mumbai und die moderne Shinjuku-Station in Tokyo werden täglich von rund 4 Millionen Passagieren passiert. Beide durfte ich hautnah erleben. Sie lösten Assoziationen an strukturierte Ameisenhaufen aus. – Der für mich schönste Bahnhof steht in der alten Kaiserstadt Kyoto. Es ist in der Tempelstadt ein moderner, 1997 erbauter „Tempel aus Stahl und Glas“. Bereits bei meiner ersten Ankunft in Kyoto packte mich dessen Architektur: ein 15-stöckiger Komplex, nicht nur als Bahnhof genutzt, auch als Geschäftszentrum, Regierungssitz, Einkaufszentrum, Ort der Begegnung und Gastronomie-Insel. Zudem finden regelmässig Kunstinterventionen statt, Live Acts oder Installationen. Das Gebäude lässt sich begehen, erwandern. Roll- und normale Treppen führen hinauf zu einem Sky Walk unter dem Dach und zur Dachterrasse mit Blick über Stadt und Landschaft. Weit unten fahren die schnellen Shinkansen ein und aus. Sie wirken von hoch oben gesehen wie Spielzeugeisenbahnen. In Japan verstehe ich Bahnhof als Teil der landestypischen Kultur viel eher als bei uns. Im Eisenbahnland wird ihnen zweifelsohne sakrale Ausstrahlung zugesprochen.

Endlich komme ich zur dritten Variante, wie ich „nur Bahnhof verstehen“ auch verstehe: als eine Methode der Weltanschauung. Der Berner Bahnhof dient mir als Vor-Bild, das ich anschaue. Er umfasst 17 Gleise, dient der SBB, der BLS, dem RBS und ist Knotenpunkt für das S-Bahnnetz der Stadt Bern. Auf dem Bahnhofplatz verkehren zudem zahlreiche Trams und Busse. Separat gelegen ist ein Postautobahnhof. Der Regionalverkehr Bern Solothurn fährt in einen Kopfbahnhof hinein, BLS und SBB benutzen einen Durchmesserbahnhof. Gegenwärtig läuft Teil 1 einer längeren Umbauphase. Ab 2040 wird der Berner Hauptbahnhof ein anderes Gesicht zeigen.

Ich beginne zu philosophieren.

  • Der Bahnhof ist ein öffentlicher Raum. Er gehört allen. Selbst der Velofahrer oder die Autofahrerin könnte ihn benutzen.
  • Der Bahnhof setzt den Punkt A, den Startpunkt. Von hier fahre ich weg zu Punkt B, dem Zielbahnhof. Der ist jedoch nicht Endpunkt, sondern eine Zwischenstation auf dem Weg zum eigentlichen Zielort, einer anderen Stadt, einem Treff mit Freunden, einer Feriendestination.
  • Ich kann mich, mit Tageskarte oder GA in der Tasche, ohne bestimmtes Ziel, ohne bestimmten Zweck und ohne Anstrengung herumfahren lassen. Abends komme ich beglückt und aufgestellt am Ausgangsbahnhof wieder an. Unterwegs sah ich andere Landschaften, Seen, Berge, Wälder, Dörfer und Städte. Vielleicht kam ich mit jemandem ins Gespräch. Oder ich las ein Buch, genoss den Speisewagen.
  • In Bern liegen 17 Gleise. Die vier RBS-Gleise führen in einer Richtung mehr oder weniger aus der Stadt hinaus, bis nach Worb, bis nach Solothurn. Die Zugkompositionen von BLS und SBB kann ich in 26 Richtungen benutzen. Insgesamt stehen mir 30 Varianten zur Verfügung.
  • Eine Fahrt an den Genfersee oder an den Bodensee löst in mir nicht dieselben Gefühle aus. Genussvoll sind beide. Auf der Fahrt ins Berner Oberland oder ins Wallis träume ich angesichts der hohen Schneeberge von Bergtouren. Reise ich nach Graubünden in ein abgelegenes Tal, befinde ich bald in einer anderen Welt.
  • Je nach Destination trage ich am Bahnhof unterschiedliches Gepäck: vom kleinen Rucksack bis zum grossen Rucksack, von der kleinen Tasche bis zum grossen Koffer.

Verstehen Sie jetzt nur Bahnhof? Als ein Symbol fürs Leben, als eine Methode meiner Weltanschauung, sagt mir der Bahnhof ohne Worte: Schaue dir die Vielfalt an, welche dir geboten wird. Du kannst wählen. Denke nicht eingleisig, fahre mit den Gedanken auch einmal in eine andere Richtung. Dein Urteil ist erst ein Vor-Urteil. Es existiert mehr als deine gewohnte Alltagswelt, riskiere einen Ausflug ins Woandershin. Wenn du Gleis 5 benutzt, reisen Leute auf Gleis 2 oder Gleis 11 nicht in die falsche Richtung, sondern an Orte, die für sie wichtig sind.

Will mir jemand seine Meinung oder ihre Weltanschauung als alleinseligmachend oder matchentscheidend verkaufen, sage ich cool: „Ich verstehe nur Bahnhof.“

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