Kunst hoch 4

Freuen Sie sich, wenn Sie überraschend einem Kunstwerk begegnen? Schütteln Sie den Kopf und denken: „Was soll das? Ich verstehe nichts von solchen Dingen.“ Oder suchen Sie hie und da bewusst den Kontakt zu Kunst? Im Museum. Im Theater. Im Konzertsaal. In der Galerie. Im Kino. Bei Street Art. Im Buch.

Ich kann nicht ohne Kunst leben, obwohl ich kein Künstler bin. Auf 4 Ebenen treffe ich auf Kunstwerke. Einige lassen mich zwar kalt und gehen weit an mir vorbei. Es geschieht aber, dass ich mit offenem Mund und grossen Augen vor einem Kunstwerk stehe oder sitze. Wow-Effekte sind nicht selten.

  • Eine Ebene ist das Museum. Fast in jeder Stadt steht bei deren Besuch auch der Eintritt in ein Museum an. Falls eine Führung angeboten wird, zögere ich nicht, mitzugehen und Dinge zu erfahren, von denen ich vorher keine Ahnung hatte. Das Museum – ein Ort der Horizonterweiterung.
  • Eine Ebene ist die Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche. Als Mitglied habe ich die Möglichkeit, Kunstschaffende und deren Werke zu treffen und von ihnen direkt zu erfahren, wie sie arbeiten. Zudem erfahre ich über schön gestaltete Jahreshefte sowie über die ökumenische Quartalszeitschrift „kunst und kirche“ aus Wien, was im deutschsprachigen Raum gegenwärtig erarbeitet wird. Da gibt es Perlen zu entdecken.
  • Eine Ebene ist die Vermittlung von Kunst. Als Redaktor des Bieler Pfarrblatts sowie als Gemeindeleiter in Köniz und Burgdorf durfte ich Ausstellungen, Konzerte, Kunst im Kirchenraum, Kulturnächte organisieren sowie Kunst im Pfarrblatt präsentieren.
  • Eine Ebene ist der unerwartete Einfall von Kunst in meinen Alltag.

Letzteres passierte vor ein paar Tagen, am Dienstag, den 22. September 2020. Die Titelseite der Neuen Zürcher Zeitung zeigte sich als irritierendes Blatt. Beim Weiterblättern hielt mein Erstaunen an. Kunstseite folgte auf Kunstseite. In allen Ressorts, in der ganzen Zeitung konnte der Künstler Julian Schnabel seine Bilder einbringen. Eine Tageszeitung verwandelte sich in eine Kunstgalerie. Das Projekt steht unter dem Titel „Kunst kennt keine Krise“. In den Texten mit dem und zum amerikanischen Gegenwartskünstler wird im Feuilleton-Bund gleich ein „Katalog“ mitgeliefert. Damit sich das Schaffen des 68-jährigen ein klein wenig verstehen lässt.

Mir war Julian Schnabel bisher nicht bekannt, er ist mir nie „ins Auge gestochen“. Sein Beispiel zeigt – einmal mehr –, was Kunst zu leisten vermag. Mit Kunst vermag ich die Welt mit Augen anderer anschauen. Die Konfrontation mit einer Skulptur, mit einem Bild, mit einem Musik- oder Theaterstück reisst mich heraus aus meiner Trägheit des Denkens. Ich kann, ich könnte damit Wirklichkeit neu buchstabieren lernen. Um Martin Krohs zu zitieren: „Nicht die Gewissheit prägt die Wirklichkeit, sondern die Ungewissheit. Nicht das Tatsächliche macht die Situation aus, sondern das Womögliche. Es ist eine Welt der existentiellen Womöglichkeiten, in der wir leben.“ Ein Kunstwerk sagt mir meist ohne Worte: „Womöglich ist die Welt anders, als du dir einbildest.“
Kunst wirkt als Gegenmittel gegen Dogmatismus, gegen Verkrustungen im Kopf. Sie fördert Beweglichkeit im Empfinden, schult Empathie. Durch sie entsteht Toleranz: ich muss nicht alles verstehen – andere dürfen AndersARTiges einbringen. Die Netzwerkforschung unterstützt diese Haltung: schlaue Leute holen sich ihre Informationen bei anderen, nicht bei den eigenen Leuten. Diejenigen aber, die es nicht so genau wissen wollen, reden nur mit denjenigen, die so reden wie sie selbst.

Kunstschaffende, so wird erzählt, führen ihr Leben als Tanz auf dem Vulkan. Sie sind Vortanzende im grossen Totentanz. Wir Normalsterbliche verdrängen den Tod eher. Wir reagieren wie Snoopy, der mit Charlie Brown auf einem Steg sitzt und aufs Wasser schaut: „Eines Tages werden wir sterben, Snoopy“, sagt Charlie Brown. Und Snoopy antwortet: „Ja, aber an allen anderen Tagen nicht.“

Das Wissen um Vergänglichkeit bringt Kultur hervor. Deren Herzstück: die Kunst. So erweist sich Kunst eigentlich als skandalös, weil sie unter die Haut greift und Unsichtbares „brutal“ sichtbar macht. Denn sie bringt Ekstase und Todesbewusstsein in einen Zusammenhang. Sie verschränkt Eros und Thanatos, Sexualität und Tod. Das ist an vielen Kunstwerken abzulesen. Was sind die meistverbreiteten Motive in der abendländischen Kunstgeschichte? Der weibliche Akt und Jesus am Kreuz, der Nackte mit dem Lendentuch. In der Kunst wimmelt es von Gekreuzigten und von unbekleideten Frauen. Beide Motive gaben und geben Anlass für Tabuverstösse und Skandale. (Philipp Meier zeichnet dies in der NZZ vom 29. September 2020 eindrücklich nach.)

Kunst hoch 4? Besser: Kunst hoch X.
Wer um den eigenen Tod weiss, dem und der dürfte das Leben wohl selber zu einer Art Kunststück werden. Immerhin für Augenblicke.

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