Sich bewegen mitten im Alltag. Jetzt natürlich mit Maske. Natürlich auf Abstand. Natürlich fast ohne Kontakt zu anderen. Klar, der Begriff „natürlich“ wird hier strapaziert. Nein, natürlich wirken weder Maske vor Mund und Nase noch Abstand noch Kontaktlosigkeit. Sie sind einfach ein Gebot der Pandemie-Bekämpfung.
Seit gestern gelten schweizweit neue Regeln. Corona dominiert Gespräche, Politik, Medien, Alltag. Corona verbietet Zusammenkünfte grösserer Gruppen. Dabei würden in diesen herbstlichen Tagen Möglichkeiten anstehen, gemeinsam Geburtlichkeit und Sterblichkeit zu bedenken. Sich über Sinn und Sinnlichkeit des Lebens auszutauschen.
Heute werden neue Kinder geboren.
Heute feiern manche Menschen ihren eigenen Geburtstag zwischen 1 und 101 (oder mehr). Herzliche Gratulation und viel Glück!
Heute sterben Menschen, junge und alte. Mein herzliches Beileid und viel Kraft für Angehörige und Freund:innen!
Heute erinnern sich manche an den Todestag von Partner:in, Eltern, Bekannten, Kindern.
Anfang November – manchen wohl nicht bewusst – begeht die Liturgie der katholischen Kirche zwei besondere Tage: Allerheiligen am 1. November und Allerseelen am 2. November. 2020 dürfen diese sehr alten Rituale coronabedingt leider nur in kleinstem Rahmen stattfinden.
Allerheiligen ist ein Freudenfest, das Fest allen Lebens. Es kommt im herbstlichen November zuerst. Darauf folgt das Gedächtnis der Toten: Allerseelen. Manchmal haben im Alltag jedoch Todesmächte und dunkle Stunden mehr Gewicht als aller Lebenswille. Leben ist zerbrechlich, Stückwerk. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Nicht nur die aktuelle Pandemie macht das schmerzlich deutlich. Das Scheitern von Lebensentwürfen, Krankheit, der Tod liebgewonnener Menschen – das sind Realitäten. Sie greifen mitten ins Leben hinein.
Mitten in den Tod kann auch neues Leben einfallen. Sterblichkeit und Geburtlichkeit, Geburt und Tod sind wie Zwillinge. Immer wieder gibt es neues Leben zu feiern, immer wieder heisst es Abschied zu nehmen. Wir begegnen Widersprüchen. Sie können uns beelenden, fertigmachen. Oder wir lernen mühsam, sie einigermassen zu akzeptieren. Wer die Koexistenz des Widerspruchs anerkennt, dürfte wohl ein Stück gelassener leben.
Allerheiligen und Allerseelen weisen ebenfalls auf die Koexistenz des Widerspruchs hin. Freudenfest – Totengedenken. Beides gehört in seiner Widersprüchlichkeit zum Menschen, wenn er und sie menschlich bleiben wollen. Allerheiligen feiert die Würde jedes Menschen, feiert sein Geheimnis, seine Persönlichkeit, feiert die Gegenwart. Allerheiligen beinhaltet ein kollektives Geburtstagsfest und sprengt so – mitten im Herbst, mitten im Nebel des Mittellandes – Grenzen von Konfessionen, Religionen.
Allerseelen erinnert an das Vergangene und gibt den Toten ihre Würde, lässt ihnen ihr Geheimnis. Menschen besuchen an diesem Tag Friedhöfe, um an Gräbern Kerzen anzuzünden. Mich inspiriert ein Vers der Lyrikerin Hilde Domin, den ich so umsetze: Auf dem Friedhof zünde ich die eine oder andere Kerze an für Herzen, die im Grab liegen. Damit wiederhole ich etwas im Ritual, was diese Menschen bereits geschenkt haben: Licht für andere sein.
Allerheiligen und Allerseelen sind, so sehe ich es, zwei humane Feste gegen das Vergessen: gegen das Vergessen unserer aktuellen Würde und gegen das Vergessen unserer Vergangenheit. Und es sind zwei humane Feste für eine wohltuende Erinnerung: für die Erinnerung, dass mit Menschenwürde und Menschenrechten nicht beliebig umgesprungen werden darf und für die Erinnerung unserer Geschichte, die zu uns gehört und die nicht schöngeredet werden muss.
Wie finde ich nun die Kurve zurück zum 30. Oktober? Ich verlasse dieses Blog und kurve gleich mit dem E-Bike auf Velowegen durch Bernische Landschaften mit herbstlich leuchtenden Bäumen. Unterwegs Sonne pur. Und abends wird ein fast voller Mond aufgehen. Sich bewegen mitten im Alltag. Jetzt.