Von Vorteil ist es, dieses Blog als Tausendfüssler:in zu lesen. Ein paar Stolpersteine liegen quer verstreut herum. Wer jedoch auf mehreren Füssen geht, kommt nicht ins Straucheln, falls ein Fuss oder gar zwei Füsse tatsächlich stolpern sollten. Denn nicht nur „Entweder Oder“ gibt es. Es gibt viel mehr, wenn ich „Weder Noch“ sage.
Ein Freund machte mich auf das neue Buch von Noam Chomsky aufmerksam. Es trägt den Titel „Rebellion oder Untergang!“. Das Buch versammelt Aufsätze, Interviews und Gespräche. Der US-Amerikaner beschäftigt sich vor allem mit zwei grossen globalen Stolpersteinen: mit dem fortschreitenden Klimawandel und dessen Folgen sowie mit der unterschätzten Gefahr eines möglichen Atomkrieges. Obwohl Chomsky 92-jährig ist, publiziert er Jahr für Jahr ein politisches Buch. Denn das Zeitgeschehen ist ihm auch im hohen Alter nicht egal. Er weist darauf hin, dass ein Atomkrieg möglich sei. Dieser werde apokalyptische Zustände produzieren – Untergangsstimmung. Entweder. Oder die Alternative: die Politik schliesst neue Abrüstungsverträge und verschrottet Nuklearwaffen. Wo aber wird gegen Atomwaffen demonstriert, gar rebelliert? Ich weiss es nicht. Im Gegenteil: Aufrüstung verschlingt immer mehr Geld.
Mein Freund ist Psychologe. Und mehrfacher Grossvater. Er engagiert sich für eine enkeltaugliche Welt. Zwei Texte hat er verfasst, in denen er Stolpersteine beim Namen nennt und mögliche Auswege aus dem Labyrinth aufzeigt.
„Evolution statt Untergang – ein AUF!RUF“ titelt der eine Text lautstark. Unter anderem plädiert der Autor für einen neuen Gesellschaftsvertrag mündiger Menschen. Er sieht Überzeugungen von Noam Chomsky nahe bei seiner Sicht der Dinge. Der zweite Text formuliert weitere Anregungen für einen Gesellschaftsvertrag zur Sicherung eines anständigen Lebens. Beide Texte meines Freundes Markus Hartmeier sind hier oder in der Rubrik Einwurf zu lesen. Es lohnt sich, seinen Einwurf aller Stolpersteine zum Trotz entgegen zu nehmen und ihn weiter zu spielen. Damit Untergangsstimmungen nicht überhand nehmen.
Untergangsstimmungen und eine Begeisterung für apokalyptisches Denken heute konstatiert Martin Burckhardt im Essay „Apocalypse now!“, publiziert in der Zeitschrift Lettre International 131. Um diese Stolpersteine zu charakterisieren, benutzt er die jüdische Apokalyptik ab Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus (greifbar im Buch Daniel, im Buch Henoch, im vierten Buch der Makkabäer) als Matrix einer zeitgenössischen Problematik. Unsere bekannte Welt wird durch Globalisierungsphänomene und Digitalisierung auf den Kopf gestellt – und aktuell vom Corona-Virus zusätzlich arg durchgeschüttelt. Herkömmliche Ordnungen sind gestört, unlesbar. Der Horizont verdunkelt sich. Entfremdung nimmt zu. In einem solchen Kontext bietet sich laut Martin Burckhardt apokalyptisches Denken als sogenannte „Lösung“ an, als Identifikationsangebot. Die „Hure Babylon“ aus der damaligen alttestamentlichen Zeit sei heute das „System“. Der heutige Vorwurf des „Toxischen“, des Giftigen, ist für den Autor eine Variation des alten Kirchenbanns, der den Häretiker aus der Gemeinschaft der Gläubigen exkommuniziert(e). Ins Kleid des Märtyrers gehüllt, habe der Apokalyptiker stets das letzte Wort. Er könne im Gefühl unbeschädigter Ganzheit der Welt sein Verdammungsurteil entgegenschleudern. Seine Bezugsgrösse sei das Leiden: „Ich leide, also bin ich.“ Das ist übrigens auch das Wesen einer Identitätspolitik, die sich von vornherein via Opferstatus und Unterdrückung definiert. Und wer sich in der Hierarchie der Opfer-Narrative am stärksten unterdrückt fühlt, kann/darf/muss sich am lautesten äussern. Das Fazit des Autors: Apokalyptik wiederholt sich immer wieder. Neu bedient sie sich sozialer Netzwerke. Die „Erwählten“ versammeln sich im Twitter-Mob und fallen im „Jüngsten Gericht“ über irgendwelche „Abweichler:innen“ her. Er nennt das Apotheose (Vergöttlichung) des Irrsinns. Sie zeigt sich als Religion ohne Religion.
Ein letzter Stolperstein: hie und da ist in der Schweiz und anderswo ein Stadt-Land-Graben ein Thema. Der Stadt werden progressive Werte zugeschrieben, dem Land konservative. Die einen denken kosmopolitisch, die anderen in einem Heim-und-Herd-Gefühl. Die einen treten für globale Vernetzungen ein, die anderen für nationale Unabhängigkeit. Das Entweder-oder könnten Sie und ich wohl problemlos fortsetzen
Ich stehe solchen Entweder-oder-Zuordnungen skeptisch gegenüber. Vor allem wenn sie hintergründig moralisch aufgeladen daherkommen: „Ich weiss es besser. Du hast keine Ahnung.“ „Ich kenne mich in der Welt aus. Du lebst hinter dem Mond.“ „Ich denke an die Zukunft. Du lebst in der Vergangenheit.“ Solche Schablonen-Sprüche stimmen erstens nicht und machen zweitens vieles kaputt. Klüger wäre es wohl, sich gegenseitig auf politische und sprachliche Stolpersteine aufmerksam zu machen und sie gemeinsam zu entschärfen. Wir sind ja nicht nur Zweibeiner, sondern Tausendfüssler:innen. Nutzen wir unsere vielfältigen Talente.
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