Es war Ende der 1960er Jahre. Die Reihenfolge ist mir nicht mehr bekannt. Was kam zuerst? Ein Pro- und Kontra-Streitgespräch für und gegen einen neuen Kanton Jura in der Schule oder das Sommerferienlager in Les Emibois? Mit einigen Jungs fuhr ich mit Mopeds vom Bodensee dorthin. In Le Noirmont oder in Saignelégier kaufte ich eine kleine rot-weisse Jura-Fahne. Diese befestigte ich an meinem Moped. Auf der Rückfahrt in die Ostschweiz – die Erinnerung ist präsent – wurden wir Töfflibuben im Bernbiet beschimpft. Die Leute am Strassenrand sahen in uns jurassische Separatisten, Provokateure. Doch wir gehörten nicht zu den Béliers. Wir waren Sankt Galler, Thurgauer, Oberthurgauer Jungs. Wir unterstützten jedoch symbolisch einen kommenden Jura Libre. Und wir gingen in einem katholischen Gymnasium zur Schule.
Hunderte von Jurafahnen wurden am 28. März 2021 in Moutier geschwungen. Eine starke emotionale Demonstration! Die kleine Stadt entschied sich vor drei Tagen für den Wechsel vom Kanton Bern zum Kanton Jura. Bis der Entscheid an der Urne praktisch vollzogen werden wird, dauert es allerdings noch fünf oder sechs Jahre – wenn alle Seiten damit einverstanden sein werden. Die demokratischen Mühlen in der Schweiz mahlen langsam. Das ist gut so.
Von 1981 bis 1995 war ich beruflich in Biel-Bienne tätig. Kirchlich gesehen sind die Katholik:innen der Region Teil des Jura Pastoral. Darin bilden die Deutschsprachigen eine kleine Minderheit, für mich eine spannende Situation. Ich lernte die Geschichte von Biel kennen, die Geschichte im (historischen) Jura – erwähnenswert wäre u.a. die ehemalige Abtei Moutier-Grandval, die Rudolf III. von Burgund 999 dem Basler Bischof schenkte -, die Geschichte im alten Bistum Basel (bis 1800) mit Bischofssitzen in Basel und ab 1528 in Porrentruy und sowie die Geschichte im neuen Bistum Basel ab 1828 mit Bischofssitz in Solothurn. (Es gäbe dazu viel zu erzählen. Doch ich habe meine Bieler Arbeitspapiere, Unterlagen und Radiosendungen beim Zügeln entsorgt…)
In Biel war ich einige Jahre Mitglied einer Projektgruppe für ein neu zu schaffendes Stadtgeschichtliches Museum. Das Projekt hatte keine Chance auf eine Realisierung, das merkten wir rasch. Denn Biel bietet zu wenig Eigenständiges an alter Geschichte. Dazu kommt, dass sich die Stadt in der Jura/Bern-Thematik nie eindeutig positionierte. Die Stadt ist zwar eine Gründung des Fürstbischofs von Basel in den Jahren 1225/30, um sich deutlich von den Grafen von Fenis-Neuenburg-Nidau abzugrenzen. Aber Biel schloss im 13. und 14. Jahrhundert eine Reihe von Burgrechtsverträgen mit Klöstern, verbündete sich mit Nachbarstädten und Grafenhäusern. Das führte zu Krach mit dem Bischof von Basel. 1528 schloss sich Biel der Reformation an, blieb jedoch unter der zivilen Herrschaft des Basler Fürstbischofs. Als Frankreich das Fürstbistum Basel besetzte, wurde Biel 1798 dem Département Mont-Terrible und 1800 dem Département du Haut-Rhin eingegliedert – und der französischen Verwaltung unterstellt. Schon bald nahm die Geschichte Biels eine weitere Kurve. Nach dem Sieg über Napoleon teilten die Siegermächte auf dem Wiener Kongress 1814/1815 Europa neu auf. Dem Vertreter Biels in Wien, Georg Friedrich Heilmann, gelang es nicht, für seine Region einen neuen Kanton Biel herauszuholen, er war politisch zu unbedeutend und fand keine Unterstützung. Das Fürstbistum Basel und mit ihm der heutige Jura kam zum Kanton Bern, der dafür auf die Waadt und auf einen Teil des Aargaus verzichten musste. (Auf der Schlossmauer von Lenzburg prangt noch heute der Berner Bär…)
Das Verhältnis Jura / Bern war ab 1815 geprägt von Konflikten und Spannungen. Die Jurassier bemängelten, dass der Kanton Bern ihre Region sprachlich und infrastrukturell vernachlässigte. 1947 brach der Konflikt offen aus, weil dem französischsprachigen Regierungsrat Georges Moeckli vom Grossen Rat das Bau- und Eisenbahndepartement verweigert wurde. Ein Schlüsselereignis: die Jurassier sahen sich vom Kanton Bern unterdrückt. Separatisten und Antiseparatisten gründeten politische Organisationen. Biel hielt sich aus dem Konflikt heraus.
1979 war es dann soweit: nach einer Reihe von Volksabstimmungen entschieden sich drei Bezirke im Norden des Jura für einen neuen Kanton. Courtelary, La Neuveville und Moutier votierten für den Verbleib im Kanton Bern. Für die separatistische Minderheit im Südjura blieb die Jurafrage aber ungelöst.
Meine letzte Bemerkung betrifft den konfessionellen Hintergrund im Jura und in Bern. Bei den Abstimmungen in den 1970er Jahren zeigte sich zwischen Norden und Süden des Juras eine klare Konfessionsgrenze: der katholische Norden votierte für einen eigenen Kanton – der reformierte Süden für den Verbleib beim reformierten Bern. Alles klar? Nein, in Moutier wuchs die Zahl der Katholik:innen. Nun will sich Moutier mit Volksentscheid vom 28. März 2021 von Bern trennen. Ist somit die Jura-Frage geklärt? Politiker:innen gehen davon aus. Expert:innen zweifeln. Ich ebenso.
Im Hintergrund des Alltags, auf der Gefühlsebene einer Region können sich politische und konfessionelle Landschaften immer wieder ändern. Nicht von heute auf morgen. Was in dreissig Jahren sein wird, weiss niemand. Die künftige Geschichte ist wie ein offenes Buch mit vielen leeren Seiten. Die Symbolkraft der rot-weissen Jurafahne wirkt weiter – in Harmonie mit dem Berner Bär und als Provokation bis an den Bielersee.
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