So ist es

Vor einigen Tagen stand ich als Spaziergänger auf der Bundesterrasse und genoss das prächtige Panorama Richtung Süden. Weit entfernt das Dreigestirn Eiger – Mönch – Jungfrau und andere schneebedeckte Alpengipfel. Etwas näher Niesen und Belpberg. Ganz nahe der Gurten. Knapp hinter mir befand sich das Bundeshaus. 10 Meter entfernt gab es zwei Eingänge, um eine Führung zu beginnen. Ich habe kein Bedürfnis, das Innere des Bundeshauses zu besuchen. Obwohl ich nahe beim Bundeshaus wohne, interessieren mich seine Räumlichkeiten nicht. Deren Bovis-Werte sollen tief sein, umso stärker die immer gleichen politischen Ränkespiele darin. So ist es. Vieles dreht sich anscheinend energielos im Kreis, das Haus wirkt als Gegenteil eines Kraftortes.

Kurz vor dem nationalen Feiertag folgen hier politische Gedanken, politisch im Sinn der griechischen Polis, übersetzt als städtischer Siedlungskern mit dazugehörigem Umland. Sie als Beitrag zum 1. August zu verstehen, wäre jedoch zu hoch gegriffen.

Als Erstes greife ich auf ein Interview mit Walter Thurnherr zurück. Am 19. Juli 2021 las ich es in der Tamedia-Zeitung Der Bund. Walter Thurnherr arbeitet im Bundehaus als Bundeskanzler, als Stabschef des Bundesrates. Somit ist er ein einflussreicher Beamter. In seinen Aussagen hätte er ein übliches Polit-Blabla von sich geben können. Hat er nicht. Er stellt fest: „Auch in der Schweiz kann sich vieles verändern. Wenn es dumm läuft, von einem Tag auf den anderen.“
Zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft meint er: „Die beiden Welten sind sehr verschieden, und Kontakte zwischen Politikern und Naturwissenschaftlern sind rar. In der Pandemie gab es plötzlich Medienkonferenzen mit Wissenschaftlern, von denen die Politiker nicht einmal wussten, dass es sie gab. … Die Methoden sind verschieden. Das politische System in der Schweiz funktioniert im Wesentlichen mehrheits-, nicht evidenzbasiert. Wir richten uns nach dem politischen Kompromiss aus, nach der Mehrheit. Die Wissenschaft lebt nach einem anderen Ansatz, denn dem Virus ist es grundsätzlich egal, ob jemand links oder rechts wählt. … Der Austausch muss intensiver und institutionalisierter werden.
Frage: Ist unser System nur auf Schönwetterperioden ausgerichtet? Antwort: „Ich sehe das anders: Im Grunde ist die politische Schweiz eine einzige permanent, aber relativ langsam laufende Konsultationsmaschine. Wir besprechen und konsultieren die ganze Zeit, niemand entscheidet endgültig, alles fliesst hin und her, am Schluss hat man eine Abstimmung und damit einen Beschluss, der von einer Mehrheit akzeptiert ist. Das ist an sich ein sehr gutes System, wir mussten es uns über 170 Jahre aufbauen. Denn historisch gesehen, sind wir ein zerstrittener Haufen – zum Teil noch bis heute. Konsultieren stabilisiert. … Unser Normalzustand ist Uneinigkeit. Darum müssen wir immer alles aushandeln. Der Preis, den wir dafür zahlen: Es dauert länger. … Wir haben nicht unbedingt ein Schönwetter-, sondern ein Viel-Zeit-Modell.
Frage: Führen mehr Abstimmungen zu grösserem Spaltpotenzial? Antwort: „Es gibt immer mehr unversöhnliche Fronten in der Schweiz. Es ist in den letzten Jahren ein Graben entstanden entlang der A1, von Genf bis Rorschach, zwischen den grösseren Städten und dem Hinterland, das sich immer mehr vernachlässigt fühlt. (Hinterland ist für mich eine unglückliche Wortwahl.) Und es besteht ein unterschätzter Graben zwischen den Sprachregionen – wir leben nebeneinander im selben Land, ohne miteinander zu sprechen, wir verstehen uns ja auch kaum mehr. … Wir sollten Sorge tragen, dass die Debattenkultur erhalten bleibt. Es geht in der direkten Demokratie nicht nur um die Ermittlung der Mehrheit, sondern auch um den Umgang miteinander zwischen diesen Entscheiden. Das haben noch nicht alle begriffen. … Wir haben immer davon profitiert, dass wir eine Kultur des Abstimmens geschaffen haben. Einmal verliert man, einmal gewinnt man. Die Schweiz hält das aus. Oder besser gesagt: Genau das macht die Schweiz aus!“

Als Zweites mache ich wieder einmal auf eine kultursoziologische Methode aufmerksam. Sie wird aus meiner Sicht zu wenig beachtet und diskutiert. Lebensstile, Lebensphilosophien, die Ästhetik des Alltags stehen bei ihr im Vordergrund. Dieser Blickwinkel sieht nicht das Individuum allein, er sieht Ähnlichkeiten innerhalb einer grösseren Gruppe, in einem der sozialen Milieus. In der Schweiz kennen wir mindestens 10 soziale Milieus. Die Sinus-Studie von 2016 zählt sie auf: Arrivierte (8%) – Gehoben-Bürgerliche (16%) – Genügsame Traditionelle (9%) – Konsumorientierte Basis (8%) – Bürgerliche Mitte (15%) – Postmaterielle (12%) – Performer (10%) – Digitale Kosmopoliten (7%) – Adaptiv-Pragmatische (6%) – Eskapisten (9%). Grenzen zwischen benachbarten Milieus sind fliessend. Es gibt zwar Berührungspunkte und Übergänge. Aber es existieren auch Distanzen zu weiter „entfernten“ Gruppen Gleichgesinnter. Mehr dazu lesen Sie unter Soziale Milieus zeigen Abgrenzungen.

Die Kunst einer Gesellschaft bestünde darin, jedes Milieu und dessen Untergruppen als „So-ist-es“ anzuerkennen, dessen Bedeutung zu schätzen sowie Ausdrucksformen zu fördern, die gegenseitig auf ein Stück Neugier und Interesse ausgerichtet sind statt auf entschiedene Ab- und Ausgrenzung des anderen.

Vor einigen Jahren stand ich als Bergsteiger frühmorgens auf dem Gipfel der Jungfrau. In weiter Ferne konnte ich Bern ausmachen und mit dem Feldstecher ganz klein das Bundeshaus. Von dessen politischen Ränkespielen war hier oben nichts zu spüren. Umso stärker wirkte der Alpengipfel als Kraftort. So ist es.

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