Adventskalender für Erwachsene

Seit Sonntag brennt die erste Kerze auf dem Adventskranz. Ab 1. Dezember können Kinder bei ihrem Adventskalender zuhause täglich ein Fenster öffnen und sich eine Überraschung schenken lassen. Rosmarie stellte für unsere vier Enkelkinder auch dieses Jahr je einen persönlichen Adventskalender zusammen. Die grossen zwei machten auch uns einen handgefertigten, er steht auf dem Esstisch. Die Vorfreude auf das Öffnen der Fenster ist auf allen Seiten gross. Der Vierjährige hält es fast nicht aus, bis Mittwoch ist.

Die vier Kerzen unseres Adventskranzes sind violett. Violett, umgangssprachlich Lila, ist die Farbe im Advent. Ob die Bedeutung der Symbolsprache und Symbolkraft von Violett/Lila in weiten Kreisen gegenwärtig ist, weiss ich nicht. Als Gemeindeleiter und Gestalter von Liturgien (Gottesdiensten) gab ich der Farbe jedenfalls Gewicht.

Was steckt hinter Violett/Lila? Ganz viel! Violett, so beschreiben Lexika die Farbe, sei komplex, vielschichtig und kompliziert in Charakter wie Symbolik. In Violett/Lila mische sich (irdisches) Rot mit (himmlischem) Blau. Mystisch Geheimnisvolles entstehe so. Zudem vereine Violett Gegensätze von Rot und Blau: Kaltes mit Heissem, Präsentes mit Flüchtigem, Männliches mit Weiblichem. Letzteres sei der Grund, warum Feministinnen Lila/Violett nutzen, um Gleichberechtigtes darzustellen.

Durch Ausgleichen von Blau mit Rot lasse sich eine weitere Bedeutung erklären: psychische Stärke. Violett stehe ausserdem für Übersinnliches – sinnliches Rot werde durch geistiges Blau „der Erde enthoben“. Die Farbsymbolik erzähle ebenfalls, dass mit Violett Transformation angedeutet werde. Durch Verschmelzen von Rot und Blau repräsentiere es das Bewältigen von Umbruchphasen im Leben, aus denen die Persönlichkeit gestärkt hervorgehe. Darum wird Violett ebenfalls bei besinnlichen Bussfeiern und Beichten eingesetzt, nach denen der Mensch neue Wege gehen will.

Die Transformation habe auch eine symbolische Schattenseite: Violett ist die Farbe tiefer Trauer (katholische Liturg:innen benutzen bei Trauerfeiern/Bestattungen Gewänder und/oder Zubehör in Violett). Feuriges Rot werde durch Blau „gelöscht“, gleichzeitig „opfere“ Blau seine Freiheit für die irdische Komponente des Rotanteils.
Kurz zusammengefasst: Violett/Lila steht sowohl für Einsicht, Tiefgründigkeit und psychische Kraft – als auch für Trauer und Verlust.

Die Überschrift „Adventskalender für Erwachsene“ bezieht sich auf Auswahl und Komplexität der vierundzwanzig Adventsfenster. Sie geben keinen Blick frei auf romantische Situationen, auf wohlige Szenen am Kaminfeuer. Jedes kleine Adventsfenster öffnet sich auf ein grosses Konfliktfeld, auf brutalen Krieg und Bürgerkrieg. Auf unendliche Trauer. Während des Jahres wird in den Medien darüber berichtet. Meist wechselt die Aufmerksamkeit bereits nach wenigen Tagen von einem Krieg zu einer anderen Katastrophe. Viele schauen am liebsten weg.

Aktuell dominiert die Corona-Pandemie unsere Wahrnehmung. Emmanuel Macron bezeichnete den Kampf gegen Corona schon vor Monaten als „Krieg“. Durch das erste Adventsfenster schauen wir auf zigtausende von Verstorbenen. Deren Zahl steigt täglich. Die Frage ist nicht abwegig: Werde ich selber von einer Ansteckung betroffen oder gar getroffen? Ich sehe durch das Fenster auch sehr viele Pflegende und Besorgte im Dienst von Kranken sowie politisch Engagierte, die „schwimmen“.
Hinter einem anderen Adventsfenster schwelt der Konflikt zwischen den USA und dem Iran. Droht am Golf eine Eskalation?
Ein Adventsfenster öffnet sich auf den Konflikt um die Krim und die Ostukraine. Was unternehmen Russland und die EU in nächster Zeit?
Ein Adventsfenster nimmt den südlichen Kaukasus ins Blickfeld.
Ein Adventsfenster schaut auf die umstrittene Region Kaschmir. Was geht hoch oben im Himalaya vor sich?
Ein Adventsfenster öffnet sich auf China, Taiwan und das Südchinesische Meer.
Ein Adventsfenster nimmt die Regionen Xinjiang und Tibet ins Blickfeld.
Je ein offenes Adventsfenster wird die Augen auf Konflikte in Afghanistan, in Syrien, im Irak, in der Türkei und in Myanmar lenken.
Weitere Adventsfenster schauen nach Nigeria, Somalia, in den Kongo, in den Sudan und den Südsudan, nach Äthiopien, Mali und nach Libyen.
Durch weitere offene Adventsfenster sehen wir auf die Philippinen, auf Thailand, auf Kolumbien und in den Gazastreifen mit seinem Umfeld.
Das 24. Adventsfenster zeigt tägliche Bemühungen, Streitereien und Kleinkriege um „Sprache“ im Spanungsfeld zwischen Blabla und möglichst präzisem, gendergerechtem, politisch korrektem, nicht-diskriminierendem Wortgebrauch.

Liebe Leserinnen, liebe Leser, vielleicht gestalten oder öffnen Sie Ihre persönlichen 24 Fenster, die woandershin schauen. Ich wünsche Ihnen jedenfalls eine sinnenvolle Adventszeit!

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