Das Buch hinter der Tageszeitung

24. Mai 2022: zwei Tageszeitungen lese ich im Print und online, heute besonders Artikel unter International, Wirtschaft und im Feuilleton. Gleichzeitig schliesse ich die Lektüre eines Buches ab. Es wurde 2015 herausgegeben mit Kapiteln aus jenem Jahr, ergänzt mit Texten von 1988, 2000 und 2014. Die parallele Lektüre von Tageszeitungen und diesem Buch macht ratlos, verwirrt mich. Unglaublich, würde ein Freund sagen. Ich erwidere jeweils: Nein, so ist es. Ratlosigkeit dominiere bei diesem Thema auch das WEF in Davos, sagt die Zeitung. Um meine Gedanken zu sammeln, beginne ich dieses Blog, eine Fortschreibung meines Textes vom 10. März 2022.

Die ersten Sätze aus dem erwähnten Buch: „Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird; ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehen wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird; ob die Europäische Union zusammenhalten oder auseinanderfallen wird. Nur so viel ist gewiss: Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden.“ Ein Buch mit 300 Seiten zur Ukraine zu schreiben, war für den Autor in seinem Lebensplan nicht vorgesehen, obwohl er ein Kenner Osteuropas ist und manch Kluges verfasst hat. Karl Schlögel heisst der Autor, 1948 im Allgäu geboren. Der Titel des Buches lautet: „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“. Seine Art, sich ein Bild zu machen, ist das Erkunden geschichtlicher Topographien. Er unternimmt eine Begehung von Orten und eine Erschliessung von Räumen. Städte seien erstklassige Dokumente, die gelesen und erschlossen werden können. Karl Schlögel portraitiert aufgrund seiner Reisen und Besuche ukrainische Städte mit ihren Einwohner:innen: Kiew, Odessa, Jalta, Charkiw, Donezk, Lemberg u.a.

Seit dem 24. Februar 2022 „reden“ diese Städte ebenfalls mit mir, auch wenn ich nie in der Ukraine war. Jetzt, am Tag 90 des Krieges, bin ich indirekt dort via Fernsehsendungen, Reportagen im Radio, Zeitungsartikel, Portraits von Flüchtlingen, endlosen Diskussionen von Politiker:innen und Fachleuten – alles kleine Ausschnitte, welche für mich jedoch kein zusammenhängendes Bild ergeben, sondern eine unheimliche Ratlosigkeit.

Bereits 2015, ein Jahr nach der Eroberung der Krim, stellt Karl Schlögel fest, „was als Blitzaktion gegen die Krim begann, ist in einen unerklärten Krieg übergegangen, dessen Ende nicht absehbar ist“. Für ihn erfolgte die Annexion zwar „wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel“. Ein deutscher „Russland-Komplex“ (Gerd Koenen) habe aber verhindert, die neue politische Situation zu verstehen und entsprechend zu handeln. Schon damals sei „die Welt der Gewissheiten“ zerfallen. Acht Jahre später wird dies heute schönfärberisch als „Zeitenwende“ umschrieben. Dass eine „Wende“ keineswegs schnell vollzogen wurde respektive wird, macht allein die Lektüre einer Tageszeitung deutlich.

Der Autor stellt 2015 fest, dass ein von russischen Taten überforderter Westen die Ukraine als „terra incognita“, als Hinterhof, als Pufferzone betrachtet und den laufenden hybriden Krieg nicht als solchen erkannt habe. Wo blieben militärisch kompetente Erklärungen zu Hintergründen dieser Entwicklung? Warum wurden kritische Stimmen aus Osteuropa, dem Baltikum und aus Russland selber bei uns nicht gehört? Russischen Oligarchen mit deren Geld hingegen zeigte auch die Schweiz ein freundliches Gesicht. Pecunia non olet – Geld stinkt nicht… und wie es verdient wird, interessiert nicht.

Es hätte, wie Karl Schlögel auflistet, nur schon eine Reihe von Kulturschaffenden gegeben, die vor 2014 mit dem Warnfinger auf den zunehmenden Militarismus und die Unterdrückung der Medien in Russland hinwiesen, jedoch immer noch auf ein gemeinsames Europa hofften. Mit 2014 hiess es dann: „Leb wohl, Europa!“

„Entscheidung in Kiew“ – was mich an diesem Buch frappiert, ist mein Eindruck, es sei erst vor wenigen Wochen geschrieben worden. Auf manchen Seiten wirkt es als topaktuelles Buch – was überhaupt kein Kompliment für dessen Leserschaft ist, mich eingeschlossen. Mir bleiben zwei Fragen:

  • Sind wir alle so beschäftigt, dass wir gar keine Bücher lesen, die uns mit Hintergründen, mit langsamen Entwicklungen versorgen? Die uns wie Seismographen aufmerksam machen möchten auf möglicherweise kommende Ereignisse?
  • Gibt es heute viel zu viele Konflikte, so dass uns schon lange die Übersicht über die Lage auf unserem Planeten abhanden gekommen ist? Haben wir weder Motivation noch Kraft noch Interesse, um nur schon eine der vielen Krisen anzupacken? Après nous, le déluge…

Ein Blick voraus: Im Jahr 2062 werden wohl Zeitgenoss:innen schreiben, dass 2022 dies und das – Sie dürften die Aufzählung wohl kennen –  keine zentralen Themen in breiten Diskussionen waren, obwohl sie eigentlich diskussionswürdig gewesen wären. Bücher dazu lagen griffbereit in Bibliotheken und Buchhandlungen, nur hätte sie fast niemand gelesen.


PS: Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine (5. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2019): der Autor stellt wichtige Ereignisse der ukrainischen Geschichte dar.

 

 

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