Stoffe reagieren miteinander, Stoffe mischen sich miteinander. Dieser Satz ist mir vom Chemie-Unterricht geblieben. In der Kultur gilt er ebenso. In Kulturbegegnungen mischen sich fremde Phänomene mit bisherigen „lokalen“ Ansichten: Daraus können, auch in mir, langsam neue Überzeugungen entstehen, die später als Eigengut verkauft werden. Ein natürlicher Prozess? Ein kultürlicher Prozess! Kulturelles Mischen geschieht nicht automatisch. Dahinter stecken Auswahl, Verwerfungen, Interessen, Strategien, politische Absichten, Konkurrenzdenken, eine Mission. Das Fremdwort dafür: Synkretismus.
In meinem Fachgebiet der Religionswissenschaft ist dieser Prozess exemplarisch zu verfolgen. Ich greife nur einen Klassiker heraus, ein einziges Buch. Es wird die Bibel genannt. Jahrelang gab ich Kurse und Seminare für Erwachsene, um sich gemeinsam diesem „Buch“ anzunähern. Jahrelang las ich in Gottesdiensten kurze Texte aus diesem Buch vor, die ich hie und da kurz kommentierte. Jahrelang stellte ich fest, wie verschieden, ja kontrovers einzelne Abschnitte aus der Bibel von den Leuten interpretiert und verstanden wurden. Die Bibel – ein Steinbruch für passende Zitate. Die Bibel – eine riesige Projektionsfläche. Die Bibel – eine analytische Herausforderung. Die Bibel – ein unmöglicher Versuch, deren historischen Kontext in ein modernes Umfeld zu übersetzen. Wenn mich Kursteilnehmer:innen in einem Bibelseminar fragten, ob sie die ganze Bibel von Anfang bis Schluss lesen sollten, riet ich ihnen davon ab. Die Bibel ist kein Roman. Die Bibel ist keine historische Abhandlung. Die Bibel ist gar kein … Buch. Obwohl sie als solches im Büchergestell steht. Hoppla! Was dann? Eine Bibliothek!
Auf regekult.ch findet sich in der Rubrik Lauf der Zeit im Unterkapitel Theologie neben dem Dossier Evangelium nach Markus eine kleine Bibelkunde. Es sind sechs Thesen, in denen ich einige berufliche Erfahrungen mit biblischen Texten zusammenfasse. Eigentlich müsste ich dort eine lange Reihe dicker Bücher zur Lektüre sowie einige Reisen in den Vorderen Orient „vor Ort“ empfehlen, um „der Bibel“ einigermassen gerecht zu werden. Das leistet sich wohl fast niemand. Hier These 1 und 4 als Beleg für kulturelle Mischungen:
These 1: Es ist nicht ganz präzis, wenn von der Bibel gesprochen wird als wäre sie ein einheitliches Buch. Der katholische Kanon der biblischen Bibliothek zählt 73 Bücher: 46 Bücher im Ersten Testament und 27 Bücher im Zweiten Testament. Die Entstehungsgeschichte der biblischen Bibliothek beträgt mehr als 1000 Jahre, in denen in Israel / Palästina diverse politische und kulturelle Brüche stattfinden (nomadische Kultur, Einfluss aus Ägypten, Königtum, städtische Kultur, Exil in Babylon, Einfluss der Perser, Aufkommen des Monotheismus, Hellenismus, Römer). Der Kanon der hebräischen Bibel (Erstes Testament) wird endgültig Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus festgelegt. Die christliche Synode von Hippo (393 n. Chr.) legt den Kanon der christlichen Bibel fest. Im Jahre 380 hatte der römische Kaiser Theodosius I. ein Edikt erlassen, das eine Kirche und eine Theologie sanktionierte. So brauchte es auch ein einheitliches Lehr-Buch. Seit 393 gibt es wiederum eine lange Geschichte mit verschiedenen religiös-kulturellen Traditionen, Brüchen und An-Sichten.
These 4: Ausserbiblische Kulturen wirken sich auf die Ausprägung des Ersten und Zweiten Testamentes stark aus: das Persertum auf das Erste Testament, der Hellenismus auf das Zweite Testament. Biblische Bücher entstehen im Dialog mit anderen und gegen andere religiöse Strömungen und Überzeugungen. Ihre Autoren und Redaktoren sind gute Kenner der Gegenwart. Dabei ist es üblich, alte Texte zu bearbeiten und neu zu interpretieren – es gibt kein Urheberrecht, aber cancel culture sowie kulturelle Aneignungen, dies meist bei der Minderheit. Viele Bücher weisen eine längere Entstehungsgeschichte auf. Die endgültige Redaktion findet oft später statt als es der „Autor“ des Buches vermuten lassen würde. Beispiele: der Pentateuch (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium), das Buch Jesaja (eigentlich sind es 3 Bücher: Jesaja, Deuterojesaja, Tritojesaja)), das Evangelium nach Johannes (mit mehreren Überarbeitungs-Phasen). Die meisten Autoren oder Redaktoren bleiben zudem anonym. Von den Autoren kann die Methode gelernt werden, sich der zeitbedingten religiösen Situation zu stellen und in ihr eine eigene (zeitbedingte!) Position des Glaubensbekenntnisses, der Weltanschauung zu entwickeln. Kritisch anzumerken: das ideologische Feld ist relativ schmal abgemessen.
Noch eine Anmerkung: Während die reformierten Kirchen nach der Reformation im 16. Jahrhundert den theologischen Leitsatz sola scriptura (allein durch die Schrift) entwickelten, formulierte die römisch-katholische Kirche das katholische und, zum Beispiel Bibel und Tradition. Auswirkungen dieses Unterschiedes stellte ich in Ausbildung wie Praxis fest: Philosophie- und Kulturgeschichte waren für mich unverzichtbar, während reformierte Kolleg:innen sich stärker mit Hebräisch, Altgriechisch und Latein beschäftigten. Beiden Fakultäten hingegen gemeinsam: das Studium von Abgrenzungen und Mischformen bei kulturell-religiösen Phänomenen. Mischformen dominieren. Nur ist das im offiziellen Diskurs (noch) nicht angekommen.
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