Aktuell überschlagen sich Nachrichten, Meinungsäusserungen und Kommentare zu sexuellem Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche der Schweiz während der letzten Jahrzehnte. Auch vollmundige Versprechungen für ein Aufarbeiten und ein Beheben von Missständen sind zu hören, zu lesen. Dabei dürfte nächstens weiteres Unrecht ans Licht kommen. Die katholische Kirche steckt in einem massiven Tief. Austritte gehören fast zur Tagesordnung. Ob sich wohl was ändern wird?
Als sonderbarer / seltsamer Deutschschweizer Katholik, der ich mich seit meiner Jugend in dieser Kirche vor Ort sowie medial mehr oder weniger engagiere, versuche ich an dieser Stelle, als kleiner „Insider“ ein Stück weit hinter alte, heikle Strukturen jener Kirche zu schauen, die in ihrer langen wechselhaften Geschichte neben architektonischen, kulturellen und zwischenmenschlichen Leistungen manche Skandale und Tiefpunkte produzierte. Warnhinweis: Mein kurzer Blick zurück – mit Einschluss der Gegenwart – ist nichts für Zartbesaitete! Den Blick braucht es jedoch, um Sackgassen zu orten.
Kennzeichen des römisch-katholischen Systems
Römische Kaiser verordneten ab Ende des 4. Jahrhunderts die Christianisierung ihres ganzen Reiches – und verboten andere religiöse Kulte. Die Kirche als Nachfolge-Institution vor allem der weströmischen Kaiser romanisierte das Katholische (katholisch = in Bezug auf das Ganze). In der Engführung auf „römisch“-katholisch resultierten eine Zentralisierung (Papsttum), eine Juridisierung (Kirchenrecht), eine Militarisierung (klare Hierarchie) und eine Klerikalisierung (nur Kleriker haben etwas zu sagen). Wo in der Volksreligiosität von Himmel und Jenseits gesprochen wurde, setzte die Amtskirche Behörden ein. Was ihr nicht passte, schloss sie aus. Sie praktiziert(e) seit alten Zeiten eine Cancel Culture. Es kam – siehe Kirchengeschichte – regelmässig zu Kirchenspaltungen, Exkommunikationen und Berufsverboten. Theologisch problematisch war die „Einführung“ der Erbsünde (der Mensch ist schlecht). Um sie aufzulösen und die Menschen zu retten, „musste Gott das Blut seines Sohnes vergiessen“. Problematisch waren/sind ein missionarischer, gnadenloser Expansionsdrang, Antisemitismus, ein düsteres Bild vom Jüngsten Gericht, das Übernehmen des griechisch-neoplatonischen Dualismus (Abwertung, ja Hass von Körper und Sexualität), unterstützt u.a. vom Kirchenlehrer Augustinus. Dazu kamen/kommen ein manipulativer Umgang mit historischen Fakten sowie neue Erfindungen von sogenannt „alten Traditionen“ (invention of tradition). Liberale Katholik:innen, zum Beispiel, standen bis vor kurzem im Gegenwind. Wer für Religionsfreiheit und andere Freiheiten, wer für Ökumene und Bibelforschung eintrat, bekam erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) etwas amtskirchliche Unterstützung. Dass Frauen mehr Verantwortung tragen können, blieb und bleibt Illusion.
Drei Modelle geistlicher Kirchenerfahrung
Medard Kehl spricht von drei Modellen der Kirchenerfahrung:
- Kirche als Identitätsfigur wird symbolisch personalisiert: Die „ecclesia“ (als Frau, als „Maria“) steht Christus (als Mann) gegenüber. Mitglieder identifizieren sich mit der Kirche, strukturelle Wirklichkeit wird spiritualisiert. Kirche versteht sich als perfekte Gesellschaft.
- Kirche als Zufluchtsort wird „petrifiziert“: sie ist autarke Heilsvermittlerin mit dem Papst an der Spitze. Integration geschieht durch Geborgenheit und Gehorsam. Gegenüber der Moderne ist sie unfähig für Dialog. „Draussen in der Welt“ interessiert nicht.
- Kirche als Hoffnungszeichen organisiert sich synodal: als Weggemeinschaft unterwegs zum Reich Gottes, durch Kommunikation nach aussen und innen, mit partizipativen Leitungsstrukturen.
In aktuellen Kirchenleitungen dominieren die Modelle 1+2. Modell 3 hat es sehr schwer trotz oder wegen ein paar halbherziger synodaler Prozesse. Die Modelle 1+2 sind mit Modell 3 nicht kompatibel. Modell 3 würde zu Veränderungen führen und damit die Modelle 1+2 relativieren. In Modell 1 spielt auch der Priester-Zölibat eine wichtige Rolle. Eine sehr alte Quelle dafür sind Kultpraktiken der Magna Mater bzw. der Herrin der Tiere, Kybele, der Grossen Göttermutter vom Berg Ida. Eunuchenpriester demonstrierten durch Kastration (Entmannung) ihre exklusive Hingabe an die Göttin, sie lebten als „drittes“ Geschlecht weder als Mann noch als Frau! Die Römer importierten zwar diesen Kult aus Kleinasien, verboten aber ihren eigenen Priestern die Kastration. Sogar auf dem ersten Konzil von Nizäa (325) waren Diskussionen um die Kastration katholischer Priester ein Traktandum. Ein weiterer Grund für den Zölibat wurde im Mittelalter die Ökonomie mit Erb- und Nachfolgerechten. Weil Priester mit Leib und Seele der Kirche gehörten – also weder ihren Familien noch ihrem Clan – kam viel Besitz dazu. Der Zölibat ist wohl unumstössliches Alleinstellungsmerkmal der römisch-katholischen Kirche.
Bei uns debattiert werden …
- eine körperfeindliche Sexualmoral der katholischen Amtskirche
- gespaltene Kirchenbilder
- mächtige und starre Strukturen rund um das Priesterbild
- Integration der Frauen als gleichberechtige Mitglieder
- Machtkontrollen der Amtsträger
- Möglichkeiten für den Kulturwandel einer alten Institution
Wie aktiv sein?
- Aus der Kirche (= lokale Kirchgemeinde) austreten und „Kirchensteuern“ an eine soziale Institution überweisen?
- Die Faust im Sack machen und den Kopf schütteln, bis Kopfweh plagt?
- Bischöfe, Ordensobere, kantonale Landeskirchen und Kantonsbehörden an deren Aufsichtspflichten erinnern!
- Unverzagt echte synodale Prozesse einfordern!
- Im Kleinen fröhlich mit Gleichgesinnten lebensfreundlich Kirche sein – dies im gelassenen Bewusstsein, dass im Grossen sich nichts ändert!
PS: Hintergrundtexte zur katholischen Kirche, zu Kirchen- und Philosophiegeschichte sowie zu Literaturwissenschaften lesen Sie in den Rubriken Mikroskop (Kulturelle Phänomene, Kirche) und Lauf der Zeit (Theologie, Philosophie).