Von einem ihrer Grossväter erzählt Elena Kostioukovitch in der neuen Lettre International (144/Frühjahr 2024). Sie wurde 1958 in Kiew geboren. Ein Gespräch mit ihm fand 1968 während ihres letzten Besuches in der Stadt statt. Das 10-jährige Mädchen stand mit ihrem Grossvater an der Stelle, wo sich unter dem Asphalt einst Massengräber befanden. Er erzählte schon der vier- und fünfjährigen aus seinem Leben und vom Zweiten Weltkrieg. Damals lebte sie noch in Kiew. Elenas andere Grosseltern wurden 1941 in Babyn Jar ermordet.
Nach dem Ersten Weltkrieg (ab 1919) – im Zweiten Weltkrieg – heute wurden und werden in der Ukraine unzählige entsetzliche Geschichten von Unterdrückung, Gefängnis, Folter, Mord, Massakern und Tod erzählt. Wie reagiert „die Welt“ heute auf die Situation im Land? Wir können es in den Medien ein Stück weit mitverfolgen. Die Aussichten der Ukraine scheinen nicht rosig zu sein. Und wer kennt historische Hintergründe jener Region? 1853 bricht der Krimkrieg aus, die eigentliche Geburtsstunde des Ost-West-Konflikts (Konstantin Sakkas). Von 1876 bis 1878 folgt die Balkankrise. Vom späten 18. bis ins späte 19. Jahrhundert war Russland übrigens offiziell-inoffizielle Schutzmacht Preussens. Ins Lager des Westens wechselte das neue Deutschland erst nach 1945, doch Ostdeutschland blieb nach Russland ausgerichtet. Geschichte verläuft kurvig. Zurück zu Elena.
Elena Kostioukovitch ist seit ein paar Jahren italienische Staatsbürgerin und lebt in Mailand. Als Publizistin schreibt sie kritisch über den Putinismus und dessen nicht erreichten (unerreichbaren?) Ziele. Die Autorin fragt sich, wer jemals gedacht hätte, dass der Krieg von 1943 achtzig Jahre später, 2023, auf genau gleiche Weise von Putins Armee wiederholt werden würde? Die Unmenschlichkeit der Armeeführung gegenüber ihren eigenen Soldaten sei heute die gleiche wie in den vier Jahren des Krieges gegen Hitler Deutschland. Auch heute gebe es in den russischen Truppen „Männer zweiter Klasse“, untrainiertes, schlecht ausgerüstetes Kanonenfutter. Und Putin spiele gerne mit historischen Vergleichen: „Am 22. … um vier Uhr … wurde Kiew bombardiert …“ Das war am 22. Juni 1941 im Unternehmen Barbarossa. Elenas Grosseltern wurden geweckt, ihre Mutter, damals 5 Jahre alt, brach im Kinderzimmer in Tränen aus … Auf Wunsch von Xi Jinping – er wollte die Schlussfeier der Olympischen Spiele in Peking nicht stören lassen – verschob Putin seinen Angriff auf die Ukraine „netterweise“ um zwei Tage auf den 24. (Februar 2022). Die schicksalsträchtige Uhrzeit blieb. Im Jahr 1941 wie im Jahr 2022.
Ein Grossvater in Bern
Heute bin ich selber Grossvater. Unseren heranwachsenden Enkelkindern kann ich – zum Glück – nichts von selbst erlebtem Krieg erzählen. Meine wenigen Erlebnisse als HD-Soldat in der Schweizer Armee dienen eher als …, ich finde gerade kein Wort dafür. Aber jetzt toben Kriege, sogar in Europa. In zahleichen Medien sind bad news Tagesgespräch. Unsere Enkelkinder – zwischen 4 und 12 Jahre jung – bekommen eine unruhige Zeit mit, sehen dunkle Wolken am Horizont, hören beängstigende Meldungen. Was macht das wohl mit ihnen und ihren Seelen?
Aus meiner Kindheit in jener Phase zwischen 1952 und 1964 erinnere ich mich nicht an ähnlich emotionale Vorkommnisse. Da fällt mir ein: mein Grossvater in Arbon erzählte manchmal, wie jenseits des Bodensee in Friedrichshafen im Zweiten Weltkrieg Bomben der Alliierten einschlugen. Dort wurde Kriegsmaterial der Deutschen produziert. 14 km von Arbon entfernt. Die neutrale Schweiz sei aber im Krieg verschont geblieben, hiess es in der Selbstmythologisierung.
Unser zehnjähriger Enkel sagt mir, dass er jeden Abend um 21.00 Uhr vor dem Einschlafen Nachrichten auf Radio SRF höre. Ich bin beeindruckt.
Erinnerungen wachhalten
Als Grossvater sammle ich meinerseits Informationen zu meinem Leben und zur gegenwärtigen Weltlage. Ich will für unsere Enkel:innen Notizen, Texte schreiben und zusammenstellen, Erinnerungen wachhalten. Wenn sie eines Tages 20-jährig sein werden, sollen sie darin nachlesen können, was ihren Grossvater im Jahr 2024 beschäftigte – falls es sie dann überhaupt noch interessiert. Wie er auf sein Berufsleben zurückschaute. Welche Länder und Kulturen er zusammen mit Grossmutter bereiste. Welche Philosophie ihn prägte. Wo er seine Ansichten im Lauf der Zeit dank neuer Einsichten veränderte. Meine Sammlung an Material, an Stoffen in Bezug zum Alltag wächst und wächst – auch ohne direkte Kriegserfahrung.