„Es ist dramatisch!“ – „Na und?“

Wenige machen viel Lärm. Wenn Sie hitzige Diskussionen verfolgen, denken Sie wahrscheinlich hie und da, „die Welt spinnt“. Um Lärm einzuordnen, gibt es ein altes Prinzip, die 90-9-1-Regel. Sie besagt: Nein, nicht die ganze Welt spinnt. Nur 1 Prozent behauptet, etwas sei dramatisch. 9 Prozent diskutieren das hitzig. Der Rest (90 Prozent) schüttelt den Kopf und geht weiter, was soll‘s. Eine kluge Regel? Meistens wende ich sie an und bin Teil der 90 Prozent. Manchmal schaffe ich das nicht und werde ebenfalls hitzig mit den 9 Prozent. Nur selten versuche ich, mit einem Text auf regekult.ch oder in einem anderen Medium etwas „Lärm“ zu provozieren mit einer These oder einem eigenartigen Gedanken. Alle drei Verhalten der 90-9-1-Regel sind mir vertraut. Und Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser?

Mit der Diskussions(un)kultur ist es so eine Sache. Behaupten geht leicht, zuhören geht schwer. Dazu ein Zitat von Osmo Antero Wiio aus Finnland: „Kommunikation funktioniert normalerweise nie, ausser zufällig.“ Hoppla. Und ich bin in der Kreativwirtschaft tätig, in der Branche der Kommunikation … Noch ein umwerfendes Zitat: „Das Gehirn ist eine faule Sau“, sagt der Psychologe Hans-Georg Häusel. Schwarmverhalten sei einfacher. Der Psychiater Philipp Sterzer ergänzt: „Vernunft ist eine Illusion.“ Drei klare Aussagen, die in Diskussionen mit viel Lärm wenig bis nie praktiziert werden. Angewandt würde viel erregtes Reden durchschaut und reduziert.

Wer den öffentlichen Diskurs dominiert
In den letzten Wochen sind mir Texte unter die Augen gekommen mit der These, Linksliberale würden heute den öffentlichen Diskurs dominieren – und dagegen wachse konservativer, populistischer Widerstand gerade bei (männlichen) Jugendlichen. Schlagworte, klar. Die eine Seite grenze die jeweils andere Seite aus, heisst es. Ich nehme an, Sie kennen Beispiele. Es wird über unüberbrückbare Spaltungen geschrieben, über solche zwischen Deutschland-West und Deutschland-Ost oder zwischen Demokraten und Republikanern in den USA oder über den Stadt-Land-Graben in der Schweiz, über Gegensätze zwischen linksliberal und rechtspopulistisch, über „left behind“ und „running ahead“ – um einige Themen zu nennen.

Als einer, der kreativ mit Sprache „handelt“ und arbeitet, weiss ich, dass eine knapp formulierte Sprache unser Bewusstsein mitprägt, dass sie normalerweise schwarz-weiss malt, dass sie urteilt statt analysiert. Bad news verkaufen sich besser als good news, erstere können sogar süchtig machen. Untergangs-Szenarien mit Ängsten vor Kriegen, Pandemien und Umweltkatastrophen beeinflussen uns unbewusst ein Stück weit, auch unsere Kinder und Enkel:innen. Als Gegenmittel sind Hoffnung wecken und positives Denken harte Arbeit. Eine mögliche Reaktion auf negative Meldungen: Verzicht auf Fernsehen und Zeitungen. Eine weitere Reaktion: „Die andern sind schuld, ich nicht.“ Eine oft gehörte Reaktion: Fremde schaffen Probleme, die wir ohne sie nicht hätten. Ein mögliches Verhalten ist: Gespräche im Kleinen führen, die „andere“ Seite wertschätzen, nachdenken und vordenken.

Topografie der Verachtung
Ich staune, wenn die einen andere als rückständig einstufen, als solche, die keine Ahnung haben, als soziale Verlierer, als Unbelehrbare. Ich bin besorgt, wenn die einen im Verhältnis zu anderen eine Topografie der Verachtung erstellen. Deren mentale Landkarte kommt ohne sogenannt Rückständige nicht aus (in England betrifft es den Norden, in den USA den Süden, in Deutschland den Osten, in Italien den Süden, in der Schweiz den Kantönligeist). Universalisiert wird diese Topografie der Herabsetzung durch einen Kontrast von Urbanität und Provinz. Ein Faktencheck sowie persönliche Begegnungen hingegen würden positive Resultate und Bilder erzeugen, mit anderen Worten: unzählige Differenzierungen. Niemand ist „typisch“! Damit könnte die erwähnte Topografie ins Abseits gestellt werden. Unterschiede sind keine Bedrohung. „So ist das Leben / eben / uneben“, ein Netz von Beziehungen und Zusammenhängen, von Zwischentönen und Graustufen.

Verzerrte Wahrnehmungen
Die 90-9-1-Regel finde ich ein probates Mittel, Schlagworte des einen Prozent nicht als bare Münze zu verstehen. Ich sehe sie als Rotlicht: stoppen, innehalten, nachdenken. Das Gleiche gilt für Texte, die gross aufgemacht von Spaltungen erzählen. Es könnte sich um verzerrte Wahrnehmungen von Medienleuten und/oder Politprofis handeln. Oder um die Inszenierung eines grossen, dramatischen Welttheaters. Es könnte sein, dass sich Medienunternehmen damit eine höhere Auflage, grössere Einschaltquoten, mehr Klicks und damit mehr Einnahmen versprechen – und Parteien mehr Zuspruch, mehr Einfluss.

„Die Situation ist dramatisch, wir müssen was ändern, JETZT!“ Meine Reaktion auf solche Aussagen von Mainstream-Meinungsführer:innen (den 1 Prozent): „Na und?“
Früher hätte ich heftig mitgeschlagwortet mit den 9 Prozent, mich genervt über „die Abwesenden“. Heute schätze ich die Abwesenheit der 90 Prozent auf der Medienbühne, auf dem sogenannten Mainstream. Sie leben ihren Alltag mal so, mal so. Pragmatisch versuchen sie trotz all ihrer Sorgen ein gutes Leben für sich und, wenn möglich, mit anderen zusammen zu gestalten. Illusionslos. Mit Bodenhaftung.

Unsere Gesellschaft bewegt sich in langsamen Schritten trotz und gerade wegen Bedrohungen durch Krankheiten, Kriege, Konflikte, Klimaerwärmung, Katastrophen. Das Jetzt findet ungleichzeitig statt in der „Ko-Existenz des Widerspruchs“. Das ist für 90 Prozent normal. Sie sagen: „Na und!“

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