Sind „wir“ sonderbare Leute? (Teil 1)

Wer sind „wir“? Für Joseph Henrich sind es diejenigen Menschen, die im Westen leben. Also Sie, liebe Leserin, lieber Leser. Und ich. Es sind nicht so viele, wie wir meistens meinen. Wir seien viel weniger. Und wir seien sonderbare Geschöpfe, seltsame Menschen im Vergleich mit der ganzen Weltbevölkerung.

Wer ist Joseph Henrich? Er ist US-Amerikaner, Harvard-Anthropologe und Evolutions-Psychologe. Er schrieb ein dickes Buch mit dem Titel „Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde“. Ist er selber ein sonderbarer, ein seltsamer Forscher? Gut möglich. Er verwendet die englische Eigenschaft „weird“ (seltsam, sonderbar) für seine These und braucht das Wort als Akronym. Jeder der fünf Buchstaben steht für eine bestimmte Eigenschaft: w = western (westlich) – e = educated (gebildet) – i = industrialized (industrialisiert) – r = rich (reich) – d = democratic (demokratisch). So ist es verständlich, dass damit nur ein sehr kleiner Teil der Weltbevölkerung gemeint ist. Menschen in Indien, China, Ozeanien, Afrika, Arabien eignen sich andere für sie passende Eigenschaften zu. Darum plädiert der Autor, meiner Meinung zu recht, dafür, dass nicht alle Menschen die gleiche einheitliche Kultur leben. Es gibt klare Unterschiede. Das gilt jedoch nicht nur für grosse Kulturen, das beginnt schon im Kleinen: in unterschiedlichen sozialen Milieus, in der Berufswelt, in der Schule, in der Verteilung der Einkommen und der (militärischen) Macht usw. Nur würden seltsame Menschen oft den Fehler machen, dass sie vor lauten einzelnen Bäumen den Wald nicht sehen.

Alphabetisierung als einer der Gründe für Aufschwung
Ein Grund, warum Westler seltsam wurden, sei die Alphabetisierung. Um das Jahr 1900 herum hätten alphabetisierte Menschen noch recht merkwürdig gewirkt. Unter anderem entwickelten sie – verstärkt ab Renaissance und Aufklärung sowie biblisch begründet – die Auffassung, dass eine Person ein einzigartiges Wesen sei und über allen anderen Wesen stünde. Heute wird der Mensch viel stärker als ein Teil der Natur betrachtet, als einer der zahlreichen Knotenpunkte in einem sozialen Netzwerk, ob er/sie nun lesen und schreiben kann oder andere Fähigkeiten lebt.

Seltsame Personen bezeichnen sich als individualistisch, selbstverliebt, analytisch, kontrollorientiert, absichtsbesessen, vertrauensvoll und nonkonformistisch. Das triff auf mich zu – und auf Sie, liebe Leserin, lieber Leser? Seltsame Menschen halten Vetternwirtschaft für falsch, nennen „Vitamin B“ Korruption oder gleich Mafia, vernachlässigen den grösseren Kontext. In sonderbaren Gesellschaften zähle das Selbstwertgefühl des Einzelnen – in anderen Kulturen sei die Wertschätzung des Anderen wichtig. So gebe es in Südafrika die Lebensschulung des Ubuntu: „Ich bin, weil du bist.“ Ubuntu vermittle Empathie, Grosszügigkeit, Verbundenheit mit Gemeinschaft. Menschen seien Teil eines wichtigen Netzwerkes, geben einander Raum für Wachstum, denken mit dem Herzen. Solche Menschen gibt es jedoch auch bei uns, da widerspreche ich Herrn Joseph, der wohl sehr als privilegierter Amerikaner denkt.

Ist das Ehe- und Familienprogramm der alten Kirche Ursache für weird?
Warum sind westliche Menschen so geworden, wie oben beschrieben? Der Autor formuliert eine These, die ich bei ihm so das erste Mal lese. Sie lautet:

Die mittelalterliche katholische Kirche habe zwischen den Jahren 300/400 und 1200 unabsichtlich die Psychologie der Menschen verändert, indem sie eine eigentümliche Reihe von Verboten und Vorschriften in Bezug auf Ehe und Familie erliess (zum Beispiel das Verbot der Heirat unter Verwandten). Damit wurden eng miteinander verbundene Clans Westeuropas in kleine, schwache und disparate Kernfamilien aufgelöst.

Folgerichtig mussten sich Menschen ungefähr ab dem Jahr 1000 neu organisieren. Sie bildeten, jetzt auf freiwilliger Basis, Zünfte, Gilden, freie Städte, Universitäten. Das führte zu Handel und Reichtum, zum Wachstum der Städte, zu Innovationen ohne Ende. Angestossen wurde diese Entwicklung ab dem 8. Jahrhundert durch das Ausbreiten der Klöster, speziell der Benediktiner:innen und Zisterzienser:innen. Der Autor nennt das Aufkommen von Klöstern und Städten, von Handel und Kooperationen weit über Familienbande hinaus „unpersönliche Prosozialität“. Ab 900 habe die Kirche in Westeuropa eine einheitliche neue Supraidentität geschaffen, um Menschen zu verbinden. Und wo neue Kollektive aktiv waren, blühte die Wirtschaft auf.

Die These des Joseph Henrich teile ich mit seinen Folgen, aber nicht in der Engführung auf ein bestimmtes Ehe- und Familienmodell. Ab dem 4. Jahrhundert, und darauf geht der Autor überhaupt nicht ein, wurde im untergehenden römischen Westreich die römisch-katholische Kirche auf Befehl der römischen Kaiser allen Bewohner:innen verordnet. Es gab keine Religionsfreiheit, keine Kultusfreiheit, keine Vielfalt mehr, Mono zählte. Die Päpste übernahmen im 5. Jahrhundert römisches Recht inklusives römisches Eherecht. Und Päpste und Kaiser zogen (meist) am gleichen Strick. Zwischen Eliten und Volk bestand ein grosses Machtgefälle, wirkten riesige kulturelle Unterschiede.

PS: Im Juli-Blog beleuchte ich weitere Ausführungen von Joseph Henrich.

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