Das eine Datum liegt ein paar Tage zurück, der 1. August. Das andere Datum folgt in wenigen Tagen, der 12. September. Der 1. August, wem sage ich das, bezieht sich auf das Jahr 1291 mit dem Rütlischwur, der 12. September auf das Jahr 1848 mit der Verabschiedung der ersten modernen Bundesverfassung. Beide Daten spielen in der Schweizer Geschichte und in der Schweizer Politik eine Rolle bis heute. Im Mai-Blog fand ich es keine gute Idee, den 12. September möglicherweise nächstens als zweiten Nationalfeiertag zu installieren.
Die Beschäftigung mit Schweizer Geschichte, genauer mit Schweizer Geschichten, gefällt mir. Ich komme in Kontakt mit vielen lokalen Ereignissen und Veränderungen. Auch die europäische Dimension erscheint im Blickfeld. Allein schon zu beobachten, wie „meine“ Ostschweizer Kantone Thurgau und Sankt Gallen im Laufe einer langen Zeit erst im Jahr 1803 „entstanden“ sind, verhilft mir zu spannenden Erkenntnissen. Kaiser Napoléon Bonaparte verfügte sie (und andere) mit seiner Mediationsakte. Hinter der heute offiziell festgelegten Geschichtsschreibung verstecken sich zahlreiche Auf-und-Abs, manche regionale und europäische Machtverschiebung. So ist es für mich unmöglich zu sagen, wann genau der Thurgau, wann Sankt Gallen, wann die Eidgenossenschaft, wann die moderne Schweiz eigentlich begonnen haben. Doch „genau“ zählt für historisch Denkende nicht. Diese schauen auf langfristige Prozesse mit kulturell-politischen Weichenstellungen, zum Beispiel von Klöstern zu Städten oder von den Zähringern zu den Habsburgern, von Fürstengeschlechtern zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die Alte Eidgenossenschaft zählte bis 1648 de jure auch dazu.
Dichtung und Wahrheit
Politiker, Historikerinnen, Theologen, Literatinnen sind bekannt dafür, gute und spannende Geschichten zu erzählen, welche Eindruck machen und haften bleiben. Wie sagte Giordano Bruno schon 1582: „Se non è vero, è ben trovato.“ Heute heisst die gleiche Beobachtung „invention of tradition“. Den Begriff der „erfundenen Tradition“ führten 1983 Eric Hobsbawn und Kollegen ein, worauf ich im Dezember-Blog 2019 hinwies.
Wenn nun an unseren Schulen der Geschichts-Unterricht heruntergefahren und ein Fach am Rand wird, dann ist es nicht erstaunlich, dass Geschichte nur noch mit sogenannten Superlativen, mit emotionalen Schlagworten und wegen Zeitmangels in Kürzest-Versionen erzählt wird. Hintergründiges, Komplexes bleibt weg. Dann fragt bald niemand mehr danach, wann der 1. August als Nationalfeiertag beschlossen wurde (1891) oder was auf der Rütli-Wiese am 1. August 1291 geschah (nichts). Dann interessiert sich bald niemand mehr dafür, was sich in der Zeit um 1300 in der heutigen Innerschweiz entwickelte (die Städte Bern und Zürich hatten Probleme mit Habsburg, doch Vögte regierten in der Innerschweiz nicht, ebenso fand kein Burgenbruch statt).
Es gibt das „Weisse Buch“ von Sarnen, eine Urkundensammlung, verfasst vom Obwaldner Landschreiber Hans Schriber um 1470. Er ergänzte die Sammlung mit einer mythenhaften Ausschmückung der eidgenössischen Urgeschichte, so mit der dänischen Erzählung eines Apfelschusses. Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ stützte sich 1804 auf das „Weisse Buch“.
Wahrscheinlich hat Aegidius Tschudi (1505-1572), der erste eidgenössische Geschichtsschreiber, den Rütli-Schwur „erfunden“ und ihn auf den 8. November 1307 datiert. Hintergrund dafür waren Landfriedensbündnisse, wie es sie im Reich manche gab, auch in der Alten Eidgenossenschaft. Darin versichern sich die Beteiligten, einander in Not gegenseitig zu helfen.
Ein lesenswertes Buch
Die beiden Historiker Werner Meyer und Angelo Garovi erzählen in ihrem neuen Buch „Die Wahrheit hinter dem Mythos. Die Entstehung der Schweiz“, was aus der ersten Zeit der alten Eidgenossenschaft belegt ist – und was als Fiktion, als erfundene Tradition gelesen werden kann. Hans Schriber schrieb wohl wortmächtig und bilderreich ein Pamphlet gegen Habsburg – und projizierte Zustände aus dem 15. Jahrhundert ins 13. Jahrhundert zurück – eine verbreitete Methode von „einseitiger“, interessengeleiteter Geschichtsschreibung, die bis heute weltweit angewandt wird. Einen Mythos aufzubauen, kann psychologisch genutzt werden, indem sich der „Kleine“ über den „Grossen“ erhebt.
Wem jedoch Geschichte am Herzen liegt, dem und der wird es nicht einfach gemacht, auf Emotionen zielende spektakuläre Dichtung von langsamen und im Kleinen verlaufenden historischen Prozessen zu unterscheiden. Das gilt für die eigentlich überschaubare lokale Ebene – ich habe sie am Beispiel Thurgau und am Beispiel Sankt Gallen beschrieben. Das gilt für die nationale und europäische Ebene. Von der globalen Ebene rede ich gar nicht. Für mich ist es trotz vorherrschender Propaganda und Geschichtsklitterung wichtig, Begegnungen mit hintergründiger Geschichte, mit spannenden Geschichten nahe am Alltag zu pflegen. Dann kann ich auch den 1. August mitfeiern und am 12. September in der aktuellen Bundesverfassung lesen.
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Auf dem Tell Denkmal in Altdorf finden sich die beiden Jahreszahlen 1307 und 1895. Als der Bundesrat beschlossen hatte, zum ersten Mal (1891) den 1. August (1291) zu feiern – u. a. auch als Reaktion auf die 100 Jahr Feiern in Amerika (1876) und Frankreich (1889) – da beschlossen die Urner, nicht alles was von Bern oben kommt zu akzeptieren. Sie gaben das Tell Denkmal in Auftrag, das 1895 eingeweiht wurde und feierten 1907 nach Aegidius Tschudi 600 Jahre Eidgenossenschaft! Das kann man echt konservativ nennen!