Verlieren Kirchen an Bedeutung?

Die neuesten Zahlen stammen vom Jahr 2022. Erstmals zählt das BfS in der Schweiz die Konfessionslosen als grösste Gruppe in der Liste (nicht-)religiöser Gemeinschaften. Laut Statistik gehören dieser Kategorie 33,5 Prozent an. Katholiken machen 32,1 Prozent aus, Protestanten 20,5, Muslime 5,9 Prozent. Die Zahl der Konfessionslosen dürfte 2023 weiter zugenommen haben – und wird wohl auch 2024 steigen. Die Tendenz ist klar: Kirchen verlieren statistisch gesehen öffentlich an Bedeutung. Glaubensfreiheit wird ernst genommen. Das betrifft besonders ehemals kirchliche Milieus in Städten, bei jüngeren Generationen sowie bei gut ausgebildeten Menschen.

Im Jahr 2022 sind mehr als 60‘000 Menschen aus einer der Kirchen ausgetreten, ein Rekordwert. Soziolog:innen benennen eine fortdauernde Modernisierung und Säkularisierung der Gesellschaft als eine der Ursachen. Kritische Anmerkungen: Offizielle liturgische (gottesdienstliche) Sprache, Predigten und Rituale nehmen Lebensrealitäten nicht auf. Frauen werden gerade in der offiziellen römisch-katholischen Kirche weder auf breiter Ebene noch in der Hierarchie gepusht. Wissenschaftliche Erkenntnisse und religiöse Formulierungen liegen für die meisten meilenweit auseinander, Religion wird mit dem Stempel der Illusion oder mit jenem des Altmodischen versehen. Dazu kommt, dass kirchliche Mitarbeitende oft als links, ökologisch, moralisierend und pazifistisch oder im Gegenteil als äusserst konservativ wahrgenommen werden – für ein bürgerliches Milieu jedenfalls als sehr einseitig. Modernes Management und Unternehmensführung scheinen Fremdwörter zu sein. Zu Kirchenaustritten motivieren ausserdem nicht abreissende Meldungen über sexuelle Missbräuche in kirchlichen Institutionen, ein Missstand nach dem andern wird aufgedeckt – bei katholischen wie reformierten Amtsträgern. Ein dunkles Kapitel der Kirchengeschichte.

Soziale Projekte sind not-wendend
Unsere Gesellschaft versteht sich vermehrt postkirchlich. Und weil den Kirchen mit dem Mitgliederschwund auch Kirchensteuern wegbrechen, haben sie weniger Geld für soziale und caritative Projekte – für Projekte, die auch von Leuten positiv gesehen werden, die keinen Bezug zu einer Kirche haben. Ein Teufelskreis (um einen drastischen Begriff zu verwenden). Doch gerade soziale Projekte sind und wären heute vermehrt not-wendend. Denn moderne Menschen sind nicht besonders glücklich und psychisch eher angeschlagen angesichts der aktuellen Weltlage. In grosser Zahl werden Depressionen diagnostiziert, selbst bei Kindern und jungen Menschen. Resilienz nimmt ab, Hoffnungslosigkeit zu. Der Medikamentenkonsum erreicht Rekordhöhen. Es gibt in allen Generationen manche, die sich einsam und verlassen fühlen. Daran ändern sogenannte soziale Medien nichts. Oder sind sie eher ein Teil des Problems?

Zeit für einen Kaffee
Wenig berichtet wird in Radio, Fernsehen und Print davon, dass unzählige aktive Frauen, Männer und Jugendliche gerade als normale Kirchenmitglieder Sozialzeit einsetzen, um in der Nachbarschaft, im Quartier, im Dorf, in Vereinen, Organisationen und in befristeten Projekten „sozialen Kitt“ herzustellen – unentgeltlich, gratis, aber nicht vergebens. Sie gehen an die Front von Vereinzelung oder Einsamkeit. Sie kennen Leute vor Ort mit Namen. Sie haben Zeit für „einen Kaffee“, für spontane Gespräche, die gut tun.

Diese Art von Kirche ist unverzweckt, absichtslos, kreativ. In Gestalt von Frau X und Herr Y kommt sie wie eine Frühlingsblume daher, wie ein Gedicht, wie ein schönes Musikstück oder wie ein wärmender Sonnenstrahl. Sie missioniert nicht, macht kein Bibelseminar. Sie ruft nicht auf, am nächsten Sonntag den Gottesdienst zu besuchen oder eine grosse Kollekte zu spenden. Bibelsprüche, Katechismus-Sätze und dogmatische Lehrformeln hat sie nicht auf Lager, weil das heute nicht gefragt ist. Gefragt sind: Ein strahlendes Gesicht. Etwas Humor. Ein aktives Zuhören mit Raum für Stille. Empathie und Sympathie fürs Gegenüber. Ein gemeinsames Unterwegssein.

Mit dieser Art (= Kunst) behalten und gewinnen Kirchen Bedeutung im Kleinen , oft im Verborgenen. Kirchenkunst auf Augenhöhe. Mitten im Alltag.

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