Lesen? Lesen!

Gestern traf ich mich mit meinem 10-jährigen Enkel zum Nachtessen. Zum Dessert las er mir eine Geschichte vor. Eine Première für mich. Bisher war ich derjenige, der ihm Geschichten vorlas oder solche zu seinen Stichworten erfand. Nun ändert sich das Abendritual, er wird zum Vorleser. Ich staunte über das gepflegte Hochdeutsch des Fünftklässlers. Es war schön, ihm zuzuhören. Ich freue mich auf Fortsetzungen. Selber bin ich lieber Leser als Vorleser. Letzteres fiel mir immer schwer.

Lesen ist eine Kulturtechnik, die von vielen praktiziert wird. Dennoch gab es Mitte August Zeitungsartikel, die Papst Franziskus zitierten. Er verfasste kürzlich einen Brief, in dem er auf 12 Seiten über die Bedeutung des Lesens referierte. Er selber ist ein intensiver Leser von Romanen und Gedichten. Bemerkenswert ist, dass ein Papst dem Thema Literatur einen sogenannten Hirtenbrief widmet – ohne ein einziges Bibelzitat zu verwenden. Er schreibt aus persönlicher Sicht. Und er kennt die Literatur, im früheren Leben unterrichtete er in Argentinien als Lehrer dieses Fach. Nun ermuntert er die Leser:innen seines Briefes: Lest Bücher! Von Pflichtlektüre hält er jedoch nichts, Bücher sollen vielmehr Wegbegleitung werden. Bücher würden mithelfen, die eigene Persönlichkeit zu bilden. Er sagt sogar, ein Buch zu lesen sei manchmal wichtiger als beten. Das war schon lange meine Überzeugung, nun kann ich sie in bestimmten Kreisen päpstlich unterfuttern …

Lektüre als Teil des Alltags
Ich lese nicht bloss Bücher. Seit jeher waren und sind Zeitungen sowie Zeitschriften „mein Stundengebet“. Ohne Lektüre kann ich mir meinen Alltag nicht vorstellen. Auch in meinen beruflichen Tätigkeiten spielte und spielt sie eine wichtige Rolle. In einer Bibliothek Bücher auszuleihen, in einer Buchhandlung Neuerscheinungen zu beachten, hie und da ein Buch zu kaufen sowie Tag für Tag die neueste Zeitung zu „meditieren“ – darauf kann ich nicht verzichten. Allein Der Bund und die Neue Zürcher Zeitung bringen mir jeweils ein Stück Welt in den Briefkasten, die meinen Horizont immer wieder erweitert oder mich überrascht mit ungewohnten Perspektiven. Ich schätze Reportagen und Hintergrundinformationen. Zu einigen Themen sammle ich Zeitungsartikel, manche Ordner sind damit prall gefüllt – es werden immer mehr.

Ein Lesschreiber
Vom Kölner Schriftsteller Navid Kermani habe ich einen neuen Begriff übernommen: den Lesschreiber. In Gesprächen, in Diskussionen und in der „Arbeit“ für regekult.ch benutze ich manche Erkenntnisse aus dem Lesen. Ich behalte meine vielfältigen Lektüren nicht für mich „im stillen Kämmerlein“. Ich teile sie mit Leserinnen und Leser meiner Texte. Und ich profitiere von andern Lesschreibern und Lesschreiberinnen. Lesen und schreiben – das macht einen bedeutenden Teil meines Lebens aus. Schön und erfreulich ist es, dass es für beide Tätigkeiten keine Pensionierung gibt. Nur Schreibinstrumente haben sich verändert.

Von Anfang an kein Schönschreiber
Ich erinnere mich an den ersten Schultag in der 1. Klasse. Wir mussten auf der Schiefertafel (!) den Buchstaben „I“ schreiben“. Das war der Anfang meiner Schreiberei, was mir damals natürlich nicht bewusst war. Leider habe ich es nie geschafft, mit „schöner“ Handschrift zu kritzeln. Ich bewundere jede und jeden mit prägnanter Handschrift. Schönschreiben war und ist für mich eine Qual und brachte mir die schlechteste Note im Zeugnis der Primarschule ein. Kalligraphie – ein unerreichtes und unerreichbares Ziel. In China und Japan eine hohe Kunst.

Verständlich, dass Schreibmaschinen (früher), moderne Schreibwerkzeuge und Druckereien mir entgegenkommen. Der Prozess des Schreibens und die Handschrift an der Tastatur sind für andere Leute zum Glück nicht sichtbar. Sie sehen nur das Resultat, den fertigen Text. Natürlich könnte man den noch anders gestalten. Und mit Fotos und Bildern unterlegen. Und mit Videos oder gesprochenen Texten erweitern. Und via Facebook und Instagram publizieren. Ich weiss – und lasse es, wie es ist.

So – genug geschrieben für heute. Ich nehme nun unsere beiden Tageszeitungen auf Papier zur Hand – und lese Seite für Seite.

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