Anmerkung zum 19. Jahrhundert

Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie als regekult-Leser:in ein moderner Mensch sind und im 21. Jahrhundert leben? Sie haben die Fähigkeit, moderne Technologien wie Computer, Smartphones und Internet zu nutzen. Sie denken kritisch, indem sie Informationen analysieren, bewerten und fundiert entscheiden. Andere Kulturen schätzen sie. Sie können sich an Veränderungen und neue Situationen anpassen. Umweltfragen und grössere Zusammenhänge interessieren sie. Sie versuchen, nachhaltige Lebensweisen zu praktizieren. Auf Gefühle und Perspektiven anderer gehen sie empathisch ein. Dank Ihres Bildungsstandes haben Sie Lust, lebenslang zu lernen. Kriterien Ihrer Weltanschauung haben sich darum im Lauf der Zeit modifiziert, während ihre emotionale Basis unverändert positiv blieb.

Jetzt kommt der Hammer: als moderner Mensch kommen Sie sich oft unverstanden und einsam vor. Wo sind die früher Gleichgesinnten geblieben? Warum verlaufen viele Gespräche banal, unergiebig, streitsüchtig? Ihnen fallen vermehrt negative und abgelöschte Äusserungen auf. Sie staunen, wie laut andere Meinungen und andere Lebensstile heruntergemacht werden. Wohin ist ein gemeinsamer gesellschaftlicher Nenner, ein common sense, verschwunden? Befinden sich manche immer noch mitten in heftigen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts?

Figur des 19. Jahrhunderts
Heute ist der 20. Januar 2025. In Zeitungen lese ich in diesen Tagen solche Titel:
„Die Gefahr eines Weltkrieges ist ganz real.“ – „Der Westen weiss nicht mehr, wer er ist.“ – „Das ist das Ende der Weltordnung, wie wir sie kennen.“ – „Die Zeit der Monster“ – „Trump entfesselt sich und seine Fans in Europa.“ – „‘Great Awokening‘ war die grosse Illusion der Demokraten“. Manche Titel und Artikel haben mit aktuellen und historischen Verhältnissen in den USA zu tun. Auch ich schaue über den Atlantik, weil ich Nordamerika mehrmals bereiste, das letzte Mal im Oktober 2024.

Mich interessiert, was hinter reisserischen Titeln steckt. Aufschlussreich scheint mir ein kurzes Portrait von Donald Trump zu sein, der zwar heute in sein Amt als US-Präsident eingesetzt, aber als Figur des 19. Jahrhunderts charakterisiert wird. Er bewundert u.a. William McKinley, von 1897 bis 1901 US-Präsident. Dieser war ein Befürworter von Zöllen. Er besiegte den progressiven William Jennings Bryan. Er erweiterte das amerikanische Imperium, führte Krieg gegen Spanien, übernahm die Kontrolle über Puerto Rico, Guam, die Philippinen und annektierte Hawaii. Zudem will Trump den höchsten Berg der USA, den Denali, wieder in Mt. McKinley umbenennen. Das ist MAGA bis in die Bergspitzen! Donald Trump schätzt das amerikanische Modell im späten 19. Jahrhundert. So spricht er von einem neuen (alten) „goldenen Zeitalter“, das mit ihm wieder anbreche. Ein Symbol dafür sind im Auto verrückten Amerika tiefe Benzinpreise. Damit und mit der Verachtung der Demokraten gewann der Republikaner eine knappe Mehrheit bei den US-Wahlen 2024.

Laut Beobachter:innen liebt Donald Trump geschäftliche Deals, Macht, sich selbst und Golf, dies aber alles zu seinem Vorteil. Er verkörpert einen vom Fernsehen und von seinem Vater geprägten Schauspieler. Politik, Demokratie, Allianzen, Europa, Kultur interessieren ihn nicht. Er sehe die Welt als Dschungel und sich als Gorilla, als Monster, heisst es. Da stört es ihn nicht, ein verurteilter Straftäter zu sein. Im Dschungel zeigt sich die Welt verwirrend, unberechenbar, verletzlich, weil nur der Stärkere überlebt. Wie soll ein solches Bild die nächste Zukunft lebenswert gestalten? Eine rhetorische Frage.

Was macht Europa?
Fragezeichen bestimmen die aktuelle Tagesordnung. So meine Wahrnehmung. Andere machen wahrscheinlich Sätze mit Ausrufezeichen, ich kann das nicht. Wie verhält sich die europäische Wirtschaft, falls von Seiten der USA neue Zollschranken installiert werden? Kann die kleine Schweiz ein gutes Freihandelsabkommen aushandeln? Wo müssten West- und Ostmitteleuropa Pflöcke setzen, die typisch europäisch wären? Weiss der Westen überhaupt noch, was ihn prägte und immer noch prägen könnte? Gibt es „den“ Westen und mit ihm Europa überhaupt? Ich habe meine Zweifel und Fragezeichen.

Freiheit. Säkularität
Freiheit ist ein Begriff, der über Jahrhunderte entwickelt wurde und wird. Freiheit ist verbunden mit Liberalität (Gewaltenteilung) und Demokratie. Sie ist verbunden mit Säkularität als weiterem Begriff. Säkularität beinhaltet die Gleichberechtigung von konfessionell gebunden und konfessionslosen Menschen. Pluralismus und Religionsfreiheit sind heute in unseren Breitengraden zentrale moderne Werte, die zum common sense gehören. Sie sind nicht vom Himmel gefallen. Gerade im 19. und 20. Jahrhundert wurde um sie in Westeuropa gerungen, teils gegen heftige Widerstände und mit tragischen Ereignissen und Folgen. Ist das 19. Jahrhundert nun überwunden? Teile der römisch-katholischen Kirche verneinen dies. Und mit ihr weltweit wohl viele andere Bewegungen. Darum fühlen sich moderne Menschen oft unverstanden und allein.

Modernen Europäer:innen würde es trotzdem gut anstehen, wenn sie zu Freiheit und Säkularität Sorge tragen würden. Hier versammeln sich Humanistisches, Römisches, Griechisches, Christliches mit verschiedenen Traditionen unter dem Begriff der Freiheit. Westeuropa hat und hätte seine Stärke im ständigen Ringen um kulturelle Identität in einer offenen Gesellschaft. Diese Stärke darf es ruhig nach innen und aussen zeigen. Im 21. Jahrhundert.

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