Ein historischer Tag habe sich am 14. Februar 2025 ereignet: weltpolitisch – gesellschaftlich – persönlich. Persönlich habe ich an diesem Tag ein neues Velo bestellt, ein E-Bike mit Tiefeinstieg. Mein älter werdender Körper schafft es nicht mehr, das rechte Bein beim Auf- und Absteigen locker über den hohen Rahmen meines jetzigen Velos zu schwingen. Zeitenwende – tschüss trainierter Körper! Gesellschaftlich verzichte ich ab dem Valentinstag auf einen Strauss blöder Männersprüche. Zeitenwende – tschüss hirnloses Geplapper! Weltpolitisch gab der amerikanische Vizepräsident James David Vance den Europäern an der Münchner Sicherheitskonferenz den neuen Trump-Tarif durch. Europa – die EU – solle endlich zu sich selber schauen und den inneren Wertezerfall stoppen, sagte die aktuelle US-Regierung. Zeitenwende – tschüss westliche Einheit! Wie werden Historiker:innen in 10 Jahren zurückschauen? Geht der 14. Februar 2025 in Geschichtsbücher ein?
Europa erodiert
Mein Blog vom Januar 2025 erwähnte Freiheit und Säkularität als moderne europäische Werte. Darauf könnten Europäer:innen selbstbewusst setzen. Doch ich war wohl viel zu optimistisch mit diesem Rezept. Es interessiert nur wenige, weil ganz andere Themen in den Vordergrund rückten. Europa dürfte sich wohl in den nächsten Jahren in einen Hort der Unsicherheit verwandeln. Es war einmal … ein Friedenskontinent für eine kurze Zeitspanne ab 1945 dank mancher Illusionen.
EU und Nato haben im europäischen System Risse bekommen. Gesellschaften zeigen Spaltungen. Nationalistische Parteien wirken EU-skeptisch. Russland führt einen hybriden Krieg gegen liberale Demokratien, gegen Freiheit und Säkularität. Das Vertrauen in herkömmliche tragende Institutionen schwindet. Prognosen zu machen, ist unmöglich geworden. Zudem habe ich keine Ahnung, was sich in Indien und in China ereignet, obwohl ich beide Länder je dreimal bereiste und deren Entwicklungen verfolge.
Zwei Tendenzen
Ich beziehe mich im Folgenden auf einen NZZ-Artikel vom bereits erwähnten 14. Februar 2025, verfasst von Georg Häsler und Cian Jochem. Der Text erinnert Schweizer Politiker:innen daran, nicht einer kurzfristigen Budgetlogik zu folgen, sondern Undenkbares zu denken (was für eidgenössische Köpfe nicht gerade Priorität hat). Die Erosion Europas bedrohe nämlich auch die Schweiz.
Rund um die Ostsee sei eine liberale Koalition der Resilienz zu beobachten. Polen, die skandinavischen Länder, die baltischen Staaten und Grossbritannien rüsten auf und wollen gegenüber Russland keine Kompromisse machen. Sie sind wohl bereit, die Ukraine ohne die USA zu unterstützen. Das ist die eine Tendenz. Die zweite Tendenz unterscheidet sich von der ersten. In Mittel- und Südosteuropa scheine sich eine Schaukelpolitik zwischen den eurasischen Autokratien (Russland, China, Iran, Nordkorea) und westlichen Bündnissen durchzusetzen. Ungarn ist EU- und Nato-Mitglied, hat aber beste Beziehungen zu Russland und China. Serbien gibt sich neutral, liefert aber Waffen an die Ukraine. Das Nato-Mitglied Türkei sperrt den Bosporus für russische Kriegsschiffe, macht aber nicht mit bei Sanktionen gegen Russland.
Ausserdem: Drei von vier Nachbarländer der Schweiz sind intern gespalten, Deutschland, Frankreich, Österreich. Nur Italien hat eine stabile (!) Regierung. Was geschieht in der EU und in der Nato, wenn sich in D, F und A ein nationalistischer Kurs durchsetzen würde? Wie könnte Russland nach einem faulen Frieden zwischen der Ukraine und Russland operieren? Und wie entwickelt sich die Rivalität zwischen den USA und China? Fragen über Fragen. Und keine Antworten. Nur vier Szenarien.
Vier Szenarien
• Stagnation: Falls die Trump-Regierung Handelskriege durchzieht, könnte sich das Interesse Chinas am EU-Binnenmarkt erhöhen. Dann würde China den Kreml wohl von der Fortsetzung seiner Offensive gegen europäische Demokratien abhalten. Dadurch geriete Europa jedoch in die Abhängigkeit Pekings. Die Idee des Westens verschwände wohl für länger.
• Konfrontation: Mit weiteren Sabotageakten in der Ostsee provoziert der Kreml direkte Konflikte zwischen der Nato und Russland. So würden sich Italien, Deutschland und Frankreich gemäss Artikel 5 des Nordatlantikvertrags im Krieg befinden, drei Nachbarländer der Schweiz.
• Fragmentierung: Wenn die Sicherheitsordnung in Europa erodiert, fällt auch die Schutzwirkung für die Schweiz weg. Dies könnte zu einer raschen Eskalation führen. Der schlimmste Fall wäre ein Konflikt zwei extremer Regierungen in den Nachbarländern der Schweiz.
• Mischform Konfrontation/Fragmentierung: Ein Konflikt Russland – Ostsee-Koalition eskaliert schleichend. Die Schaukelstaaten Ungarn und Österreich blockieren die EU. Möglich würden Manöver mit Russland. Und plötzlich stünden russische Panzer kurz vor der Schweizer Grenze.
Liebe Leserin, lieber Leser, beschäftigt Sie die Erosion des aktuellen Europas als das sich wohl abzeichnende Szenario aus der Analyse? Oder kommt alles ganz anders? Niemand weiss es. Oder kann nicht erodieren, was es gar nie gab, nämlich ein geschlossenes Europa? Was es hingegen auf regekult.ch gibt: einen Text zum Buch von Jürgen Wertheimer, „Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen“. Und einen Text zum Buch von Bernhard Braun, „Europa ohne den Orient gibt es nicht. Die Herkunft Europas“. Ich wünsche erkenntnisreiche Lektüren!
PS: Eigentlich wollte ich den Februar-Blog dem griechischen Philosophen Epikur widmen. Er lebte – Achtung! – von 341 bis 271/270 vor unserer Zeitrechnung und thematisierte Lebensfreude. Ich komme darauf zurück.
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