Zeitenwende hoch drei

Ein historischer Tag habe sich am 14. Februar 2025 ereignet: weltpolitisch – gesellschaftlich – persönlich. Persönlich habe ich an diesem Tag ein neues Velo bestellt, ein E-Bike mit Tiefeinstieg. Mein älter werdender Körper schafft es nicht mehr, das rechte Bein beim Auf- und Absteigen locker über den hohen Rahmen meines jetzigen Velos zu schwingen. Zeitenwende – tschüss trainierter Körper! Gesellschaftlich verzichte ich ab dem Valentinstag auf einen Strauss blöder Männersprüche. Zeitenwende – tschüss hirnloses Geplapper! Weltpolitisch gab der amerikanische Vizepräsident James David Vance den Europäern an der Münchner Sicherheitskonferenz den neuen Trump-Tarif durch. Europa – die EU – solle endlich zu sich selber schauen und den inneren Wertezerfall stoppen, sagte die aktuelle US-Regierung. Zeitenwende – tschüss westliche Einheit! Wie werden Historiker:innen in 10 Jahren zurückschauen? Geht der 14. Februar 2025 in Geschichtsbücher ein?

Europa erodiert
Mein Blog vom Januar 2025 erwähnte Freiheit und Säkularität als moderne europäische Werte. Darauf könnten Europäer:innen selbstbewusst setzen. Doch ich war wohl viel zu optimistisch mit diesem Rezept. Es interessiert nur wenige, weil ganz andere Themen in den Vordergrund rückten. Europa dürfte sich wohl in den nächsten Jahren in einen Hort der Unsicherheit verwandeln. Es war einmal … ein Friedenskontinent für eine kurze Zeitspanne ab 1945 dank mancher Illusionen.

EU und Nato haben im europäischen System Risse bekommen. Gesellschaften zeigen Spaltungen. Nationalistische Parteien wirken EU-skeptisch. Russland führt einen hybriden Krieg gegen liberale Demokratien, gegen Freiheit und Säkularität. Das Vertrauen in herkömmliche tragende Institutionen schwindet. Prognosen zu machen, ist unmöglich geworden. Zudem habe ich keine Ahnung, was sich in Indien und in China ereignet, obwohl ich beide Länder je dreimal bereiste und deren Entwicklungen verfolge.

Zwei Tendenzen
Ich beziehe mich im Folgenden auf einen NZZ-Artikel vom bereits erwähnten 14. Februar 2025, verfasst von Georg Häsler und Cian Jochem. Der Text erinnert Schweizer Politiker:innen daran, nicht einer kurzfristigen Budgetlogik zu folgen, sondern Undenkbares zu denken (was für eidgenössische Köpfe nicht gerade Priorität hat). Die Erosion Europas bedrohe nämlich auch die Schweiz.

Rund um die Ostsee sei eine liberale Koalition der Resilienz zu beobachten. Polen, die skandinavischen Länder, die baltischen Staaten und Grossbritannien rüsten auf und wollen gegenüber Russland keine Kompromisse machen. Sie sind wohl bereit, die Ukraine ohne die USA zu unterstützen. Das ist die eine Tendenz. Die zweite Tendenz unterscheidet sich von der ersten. In Mittel- und Südosteuropa scheine sich eine Schaukelpolitik zwischen den eurasischen Autokratien (Russland, China, Iran, Nordkorea) und westlichen Bündnissen durchzusetzen. Ungarn ist EU- und Nato-Mitglied, hat aber beste Beziehungen zu Russland und China. Serbien gibt sich neutral, liefert aber Waffen an die Ukraine. Das Nato-Mitglied Türkei sperrt den Bosporus für russische Kriegsschiffe, macht aber nicht mit bei Sanktionen gegen Russland.

Ausserdem: Drei von vier Nachbarländer der Schweiz sind intern gespalten, Deutschland, Frankreich, Österreich. Nur Italien hat eine stabile (!) Regierung. Was geschieht in der EU und in der Nato, wenn sich in D, F und A ein nationalistischer Kurs durchsetzen würde? Wie könnte Russland nach einem faulen Frieden zwischen der Ukraine und Russland operieren? Und wie entwickelt sich die Rivalität zwischen den USA und China? Fragen über Fragen. Und keine Antworten. Nur vier Szenarien.

Vier Szenarien
Stagnation: Falls die Trump-Regierung Handelskriege durchzieht, könnte sich das Interesse Chinas am EU-Binnenmarkt erhöhen. Dann würde China den Kreml wohl von der Fortsetzung seiner Offensive gegen europäische Demokratien abhalten. Dadurch geriete Europa jedoch in die Abhängigkeit Pekings. Die Idee des Westens verschwände wohl für länger.
Konfrontation: Mit weiteren Sabotageakten in der Ostsee provoziert der Kreml direkte Konflikte zwischen der Nato und Russland. So würden sich Italien, Deutschland und Frankreich gemäss Artikel 5 des Nordatlantikvertrags im Krieg befinden, drei Nachbarländer der Schweiz.
Fragmentierung: Wenn die Sicherheitsordnung in Europa erodiert, fällt auch die Schutzwirkung für die Schweiz weg. Dies könnte zu einer raschen Eskalation führen. Der schlimmste Fall wäre ein Konflikt zwei extremer Regierungen in den Nachbarländern der Schweiz.
Mischform Konfrontation/Fragmentierung: Ein Konflikt Russland – Ostsee-Koalition eskaliert schleichend. Die Schaukelstaaten Ungarn und Österreich blockieren die EU. Möglich würden Manöver mit Russland. Und plötzlich stünden russische Panzer kurz vor der Schweizer Grenze.

Liebe Leserin, lieber Leser, beschäftigt Sie die Erosion des aktuellen Europas als das sich wohl abzeichnende Szenario aus der Analyse? Oder kommt alles ganz anders? Niemand weiss es. Oder kann nicht erodieren, was es gar nie gab, nämlich ein geschlossenes Europa? Was es hingegen auf regekult.ch gibt: einen Text zum Buch von Jürgen Wertheimer, „Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen“. Und einen Text zum Buch von Bernhard Braun, „Europa ohne den Orient gibt es nicht. Die Herkunft Europas“. Ich wünsche erkenntnisreiche Lektüren!

PS: Eigentlich wollte ich den Februar-Blog dem griechischen Philosophen Epikur widmen. Er lebte – Achtung! – von 341 bis 271/270 vor unserer Zeitrechnung und thematisierte Lebensfreude. Ich komme darauf zurück.

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Anmerkung zum 19. Jahrhundert

Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie als regekult-Leser:in ein moderner Mensch sind und im 21. Jahrhundert leben? Sie haben die Fähigkeit, moderne Technologien wie Computer, Smartphones und Internet zu nutzen. Sie denken kritisch, indem sie Informationen analysieren, bewerten und fundiert entscheiden. Andere Kulturen schätzen sie. Sie können sich an Veränderungen und neue Situationen anpassen. Umweltfragen und grössere Zusammenhänge interessieren sie. Sie versuchen, nachhaltige Lebensweisen zu praktizieren. Auf Gefühle und Perspektiven anderer gehen sie empathisch ein. Dank Ihres Bildungsstandes haben Sie Lust, lebenslang zu lernen. Kriterien Ihrer Weltanschauung haben sich darum im Lauf der Zeit modifiziert, während ihre emotionale Basis unverändert positiv blieb.

Jetzt kommt der Hammer: als moderner Mensch kommen Sie sich oft unverstanden und einsam vor. Wo sind die früher Gleichgesinnten geblieben? Warum verlaufen viele Gespräche banal, unergiebig, streitsüchtig? Ihnen fallen vermehrt negative und abgelöschte Äusserungen auf. Sie staunen, wie laut andere Meinungen und andere Lebensstile heruntergemacht werden. Wohin ist ein gemeinsamer gesellschaftlicher Nenner, ein common sense, verschwunden? Befinden sich manche immer noch mitten in heftigen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts?

Figur des 19. Jahrhunderts
Heute ist der 20. Januar 2025. In Zeitungen lese ich in diesen Tagen solche Titel:
„Die Gefahr eines Weltkrieges ist ganz real.“ – „Der Westen weiss nicht mehr, wer er ist.“ – „Das ist das Ende der Weltordnung, wie wir sie kennen.“ – „Die Zeit der Monster“ – „Trump entfesselt sich und seine Fans in Europa.“ – „‘Great Awokening‘ war die grosse Illusion der Demokraten“. Manche Titel und Artikel haben mit aktuellen und historischen Verhältnissen in den USA zu tun. Auch ich schaue über den Atlantik, weil ich Nordamerika mehrmals bereiste, das letzte Mal im Oktober 2024.

Mich interessiert, was hinter reisserischen Titeln steckt. Aufschlussreich scheint mir ein kurzes Portrait von Donald Trump zu sein, der zwar heute in sein Amt als US-Präsident eingesetzt, aber als Figur des 19. Jahrhunderts charakterisiert wird. Er bewundert u.a. William McKinley, von 1897 bis 1901 US-Präsident. Dieser war ein Befürworter von Zöllen. Er besiegte den progressiven William Jennings Bryan. Er erweiterte das amerikanische Imperium, führte Krieg gegen Spanien, übernahm die Kontrolle über Puerto Rico, Guam, die Philippinen und annektierte Hawaii. Zudem will Trump den höchsten Berg der USA, den Denali, wieder in Mt. McKinley umbenennen. Das ist MAGA bis in die Bergspitzen! Donald Trump schätzt das amerikanische Modell im späten 19. Jahrhundert. So spricht er von einem neuen (alten) „goldenen Zeitalter“, das mit ihm wieder anbreche. Ein Symbol dafür sind im Auto verrückten Amerika tiefe Benzinpreise. Damit und mit der Verachtung der Demokraten gewann der Republikaner eine knappe Mehrheit bei den US-Wahlen 2024.

Laut Beobachter:innen liebt Donald Trump geschäftliche Deals, Macht, sich selbst und Golf, dies aber alles zu seinem Vorteil. Er verkörpert einen vom Fernsehen und von seinem Vater geprägten Schauspieler. Politik, Demokratie, Allianzen, Europa, Kultur interessieren ihn nicht. Er sehe die Welt als Dschungel und sich als Gorilla, als Monster, heisst es. Da stört es ihn nicht, ein verurteilter Straftäter zu sein. Im Dschungel zeigt sich die Welt verwirrend, unberechenbar, verletzlich, weil nur der Stärkere überlebt. Wie soll ein solches Bild die nächste Zukunft lebenswert gestalten? Eine rhetorische Frage.

Was macht Europa?
Fragezeichen bestimmen die aktuelle Tagesordnung. So meine Wahrnehmung. Andere machen wahrscheinlich Sätze mit Ausrufezeichen, ich kann das nicht. Wie verhält sich die europäische Wirtschaft, falls von Seiten der USA neue Zollschranken installiert werden? Kann die kleine Schweiz ein gutes Freihandelsabkommen aushandeln? Wo müssten West- und Ostmitteleuropa Pflöcke setzen, die typisch europäisch wären? Weiss der Westen überhaupt noch, was ihn prägte und immer noch prägen könnte? Gibt es „den“ Westen und mit ihm Europa überhaupt? Ich habe meine Zweifel und Fragezeichen.

Freiheit. Säkularität
Freiheit ist ein Begriff, der über Jahrhunderte entwickelt wurde und wird. Freiheit ist verbunden mit Liberalität (Gewaltenteilung) und Demokratie. Sie ist verbunden mit Säkularität als weiterem Begriff. Säkularität beinhaltet die Gleichberechtigung von konfessionell gebunden und konfessionslosen Menschen. Pluralismus und Religionsfreiheit sind heute in unseren Breitengraden zentrale moderne Werte, die zum common sense gehören. Sie sind nicht vom Himmel gefallen. Gerade im 19. und 20. Jahrhundert wurde um sie in Westeuropa gerungen, teils gegen heftige Widerstände und mit tragischen Ereignissen und Folgen. Ist das 19. Jahrhundert nun überwunden? Teile der römisch-katholischen Kirche verneinen dies. Und mit ihr weltweit wohl viele andere Bewegungen. Darum fühlen sich moderne Menschen oft unverstanden und allein.

Modernen Europäer:innen würde es trotzdem gut anstehen, wenn sie zu Freiheit und Säkularität Sorge tragen würden. Hier versammeln sich Humanistisches, Römisches, Griechisches, Christliches mit verschiedenen Traditionen unter dem Begriff der Freiheit. Westeuropa hat und hätte seine Stärke im ständigen Ringen um kulturelle Identität in einer offenen Gesellschaft. Diese Stärke darf es ruhig nach innen und aussen zeigen. Im 21. Jahrhundert.

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Zeitgefühl Nostalgie. Und Innovationen

Erfunden wurde der Begriff Nostalgie am Ende des 17. Jahrhunderts in Basel. Es ging um das Heimweh von Schweizer Söldnern, um eine „pathologische“ Sehnsucht nach dem Ort ihrer Herkunft. Bald wandelte sich der Begriff. Dann stand er für ein schwärmerisches Zurückschauen auf vergangene, idealisierte Zeiten. Der Historiker Valentin Groebner nennt Nostalgie einen „Alleskleber“. Heute treibt Nostalgie neue Blüten um Verklärung und Verzerrung der Vergangenheit, privat wie gesellschaftlich. Für den Soziologen Zygmunt Baumann bildet im Buch „Retropia“ das „Zeitalter der Nostalgie“ die letzte wirksame politische Utopie. Und die SINUS-Studie 2024 formulierte für die Schweiz ein neues Milieu, jenes der Nostalgisch-Bürgerlichen (mit 12 Prozent). Sie seien die ordnungs- und sicherheitsorientierte Mitte, mit ausgesprochener Sehnsucht nach „früher“. Kleine Schnittmengen weise dieses Milieu auf mit Konservativ-Arrivierten, mit Traditionellen, mit der Konsumorientierten Basis und mit der Adaptiv-Pragmatischen Mitte. In der NZZ nennt Marc Tribelhorn zwei Beispiele ausserhalb der Schweiz: in Deutschland die Verharmlosung des Freiluftgefängnisses DDR durch die AfD, die in Wahlen immer mehr Zustimmung findet. Und in den USA Donald Trumps Make America Great Again-Bewegung mit Unterstützung von Bibeltreuen sowie „horny bros“ (geile Kumpel), die ihren lautstarken Anführer gerade zum Präsidenten des Landes wählte. Nostalgie ist aktuell hoch im Kurs. Donald Trump will ab dem 20. Januar 2025 manche(s) wegfegen, ausmisten, das Rad der Zeit zurückdrehen. Es dürfte ihm nur punktuell und vorläufig gelingen. Gutes Leben ereignet sich bekanntlich dank der Ko-Existenz der Widersprüche.

Gegenwart mache müde
Grund für das Phänomen der Nostalgie sei das Hadern mit einer als unübersichtlich und bedrohlich wahrgenommen Gegenwart. Die in den Medien beschriebene Polykrise führe zu Weltmüdigkeit. Sie wird von Populisten mit Schlagworten erfolgreich genutzt. Andreas Reckwitz, noch ein Soziologe, schrieb das Buch zur Stunde: „Verlust: Ein Grundproblem der Moderne“. Er zeichnet darin nach, wie sich im Westen die Zukunft von einer Verheissung zu einer düsteren Vorahnung gewandelt hat. „Wir alle werden enttäuscht worden sein“, sagt er ungewohnt im Futur zwei. Die bürgerliche Fortschrittsidee sei ins Stottern geraten. Was nun? Resilienz stärken? Auf die Sprache achten, meine ich! Negative oder positive Formulierungen schaffen Welt mit. Darum erinnere ich daran, dass es parallel zum Zeitgefühl Nostalgie eine Kraft gibt, die in Medien und Alltagsgesprächen leider nur hie und da zum Zug kommt, die Kraft von Innovationen. Diese Parallelität ist ein  Beispiel für Gleichzeitiges in Ungleichzeitigem.

Innovationen jeden Tag
Im Ranking der innovativsten Länder der Welt steht die Schweiz seit Jahren an erster Stelle vor Schweden und den USA. Dank zahlreicher Innovationen geht es unserem Land gut bis sehr gut. Ich formuliere hier ein grosses Kompliment an Forscher:innen, Wissenschaftler:innen und an weitere experimentierfreudige Leute! In langen Denk- und Arbeitsprozessen erfinden sie Neues. Manchmal aus Zufall, oft über Umwege, meist in Teamarbeit. Innovative Produkte beginnen klein. Die Gesellschaft wird erst dann davon Gewinn ziehen, wenn aus kleinen Ideen ein grosses Geschäft geworden sein wird (Futur zwei). Forscher:innen und Erfinder:innen verzweifeln nicht, geben nicht auf. Das beobachte ich ebenfalls bei Enkelkindern. Für sie gehören Innovationen zum täglichen Brot. Sie werden Dinge denken, die ich niemals dachte. Sie werden Dinge realisieren, von denen ich heute keine Ahnung habe. Ihre Lebensfreude kommt ohne Nostalgie aus. „Schwierige Zeiten“ sind für sie zum Glück ein Fremdwort.

Das Kalenderblatt zeigt Dezember, den letzten Monat des Jahres. Bald brauche ich die neue Agenda 2025. Ob das neue Jahr Neues bringen wird? Für mich? Für Leser:innen von regekult.ch? Für „die Welt“? In Syrien, im Iran? In Afrika? Hoffnung lebt. Viel Neues bringen wird 2025 für unsere Enkel:innen – und damit auch für deren Freund:innen in Kindergarten und Schulzimmer. Dort übt bereits die künftige Welt!

Liebe Leserinnen und liebe Leser, geniessen Sie die letzten kurzen Tage und langen Nächte des Jahres! Geben Sie an Weihnachten nostalgischen Gefühlen ruhig etwas Platz sowie strahlenden Kinderaugen viel Raum – und freuen Sie sich auf 2025 mit Innovationen und Überraschungen. Sie werden Ihnen einfach so zufallen!

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Offene Tür im November

Meine Werkstatt macht einen überstellten Eindruck. Material liegt kreuz und quer herum, dazu die Werkzeugkästen zu Religion, Gesellschaft & Kultur. Der überstellte Eindruck macht kein Alleinstellungsmerkmal aus. „Ich habe viel zu tun“, höre ich von Leuten, denen ich begegne. Eine typische Zeiterscheinung? Hätten wir nicht viel zu tun, würde wohl etwas bei uns nicht stimmen, reden wir Performer:innen und/oder progressive Realist:innen uns ein. Oder bluffen wir nur mit einer vollen Agenda? Damit wir nicht als faul, bequem, langweilig, ideenlos, uninteressiert dastehen …

Und jetzt dies: Ein Blick in meine aktuelle Agenda zeigt, dass in Woche 48 vom 25. November bis 1. Dezember 2024 kein einziger auswärtiger Termin ansteht. Werde ich in Woche 48 nichts anderes zu tun haben, ausser jeden Morgen Kaffee zu machen, Zeitung zu lesen und am Abend Geschirr abzuwaschen? Kein Projekt. Keine Sitzung. Keine Sozialzeit. Nicht einmal ein Arztbesuch. Nichts. Im Dezember sieht es im Kalender ebenfalls sehr ruhig aus – ein stiller Advent wartet auf mich. Davon träumen gestresste Leute. Ich bin ein Glückspilz! Bin ich ein Glückspilz?

Um zu „beweisen“, dass ich in diesen hektischen Zeiten wie alle (?) viel zu tun habe, schreibe ich einen Text für regekult.ch, betitelt mit Offene Tür. Wer durch diese Tür hineingeht, soll eine mit Material und speziellen Werkzeugen überstellte Werkstatt betreten. Hier schafft, so die wortlose Aussage, ein kreativer Typ vor sich hin. Ein Handwerker. Ein Wortkünstler. Etwas Bluff muss sein.

Ich bin mir des Widerspruchs bewusst. Als pensionierter Mensch, als emeritierter Gemeindeleiter, als ehemaliger Redaktor und Journalist, als vierfacher Grossvater habe ich eigentlich fast nichts mehr tun und noch weniger zu sagen. Life is not about me. Die Welt dreht sich nicht um mich. Für regekult.ch zu arbeiten, gilt deshalb aus der Perspektive eines alten weissen Mannes als immaterielles Vergnügen, als Luxus pur. Ich suche vagabundierend Buchstaben und webe an Texten, weil es mir gefällt. Punkt. Aktuelle Projekte, zu denen in meiner Werkstatt Material herumliegt, nenne ich aus Anlass der Offenen Tür. Ja, ich habe viel zu tun. Wäre Nichtstun (m)ein Leben? Eben.

Auf dem Tisch liegt Material für …

• eine Reportage zu Japan. In den Jahren 2024, 2016 und 2010 bereiste ich das Land zusammen mit Rosmarie. (Sie war öfters dort.) Japan fotografierte sie ausgiebig. Und ich sammle Infos zu einer Region, über die bei uns zuhause gesprochen wird. Eine unserer Töchter lebte dort, und sie fliegt regelmässig in den Fernen Osten. Eine japanische Austauschstudentin lernte bei uns in Köniz Deutsch. Noch heute haben wir Kontakt mit ihr, nun lebt sie in den USA.

• eine Reportage zu den USA. Am 1. November kamen Rosmarie und ich von einer 24-tägigen Reise durch den Nordwesten und die Westküste der USA zurück. Unsere ältere Tochter hat die Reise geplant und mich als Driver sicher quer durchs Land geführt. Sie lebte als Austauschstudentin 1 Jahr in Kalifornien. Dort haben wir ihre Austauschfamilie getroffen und für einige Tage deren Gastfreundschaft genossen. Unsere japanische Austauschstudentin freute sich ebenfalls über unseren Besuch in San Francisco. Im Umfeld der US-Wahlen 2024 habe ich neue Einblicke in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten erfahren (im Auto, in Gesprächen).

• einen Essay zur Klosterinsel Reichenau im Bodensee. Im Jahr 2022 wanderten Rosmarie und ich rund um den Bodensee. Dabei entstand auf www.buenzli-buob.ch das Online-Magazin MBB’s Bodenseetrail. Darin und in regekult.ch finden sich Bodensee-Essays. Nun gab es in Konstanz eine Ausstellung über 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau. Wir haben sie besucht und noch viel mehr Infos erhalten als bei unserer Wanderung. Die Reichenau ist ein Essay wert.

• einen Text zu Arbon. Eine Erzählung, eine Reportage, ein Essay, ein Gedicht zu meiner Geburtsstadt? Bereits die Unentschlossenheit, wie ich meinen Text zu Arbon nenne, weist darauf hin: über den Geburtsort zu schreiben, in dem ich seit bald 60 Jahren nicht mehr wohne, macht neben Vergnügen auch Bauchweh. Auf meinem Schreibtisch steht eine Menge an Büchern und Informationen zum pittoresken Städtchen am Bodensee. Dazu hat mein jüngster Bruder als Historiker bereits einiges über Arbons Geschichte publiziert. Was soll ich noch beisteuern? Mir fehlt eine zündende Idee, ein Aufhänger. Die vor Jahren angedachte Expo 27 findet bekanntlich nicht statt im Bodenseeraum. Jammerschade, sagt der Bodenseer.

• einen soziologischen Blick auf den Stadt-Land-Unterschied in Europa und den USA. Sergio Benvenuto macht sich dazu aufschlussreiche Gedanken. Den Text lesen Sie in der Rubrik Mikroskop unter Kulturelle Phänomene. Sein Titel: Das Land belagert die Stadt. Dazu etwas Kultursoziologie mit einer neuen Milieustudie des SINUS-Instituts und dem Blick auf 10 soziale Milieus.

• das 100-Jahr-Jubliläum der Lukasgesellschaft. Ende November werden die meisten Kunstinterventionen in kirchlichen Räumen abgebaut sein. Das OK sammelt fotografisches Material für den Rückblick sowie Medienberichte. Die Webseite www.lukasgesellschaft.ch bleibt am Ball. In meiner Werkstatt findet sich Material zu Kunst und Kirche. In der Rubrik Mikroskop unter Kunst stelle ich zwei Installationen vor, jene in Köniz und jene in der Bahnhofkirche Zürich.

Buchbesprechungen. Ohne anregende Bücher kann ich nicht leben. Hie und da schafft es ein Buchhinweis auf regekult.ch, so nächstens von Philipp Blom Die Unterwerfung. Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur. In der Werkstatt steht Buch neben Buch.

ein eigenes Buch. Ideen und Reflexionen, die ich vielleicht in einem Buch darstellen werde, nehmen zu. Aktuell stapeln sich in meiner Werkstatt 131 Seiten als Gerüst für vier grosse Kapitel. Es wird sich zeigen, ob ich Wesentliches lesbar formulieren kann. Durch  Abschreiben? Franz Molnar bemerkt dazu ironisch: Aus 1 Buch abschreiben = Plagiat. Aus 2 Büchern abschreiben = Essay. Aus 3 Büchern abschreiben = Dissertation. Aus 4. Büchern abschreiben = ein 5. gelehrtes Buch …

Was können Sie, lieber kreativer Mensch, aus Ihrer Werkstatt erzählen? Bei mir gibt es die Rubrik Einwurf. Oder schätzen Sie als Glückspilz eher einen Meditationsraum für einen stillen Advent?

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