Voller Sprachlust eine Kritik der Sprache zelebrieren

Die vergangenen Tage um Pfingsten las ich ein Buch, dessen Zeilen mir einiges zum Kauen gaben und geben. Geschrieben hat es der Philosoph Peter Sloterdijk. Sein Titel verspricht eine besondere Art, eine besondere Kunst von Poesie: „Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie“. Das Buch umfasst auf 340 Seiten 20 Essays. Jeder einzelne Essay ist eigentlich ein „Buch“ für sich, vollgeladen mit kulturgeschichtlichem Quellen-Wissen. Bei der Lektüre notierte ich mir bekannte und mir bisher unbekannte Sichtweisen auf das alte Stichwort „Religion“. Aus den Notizen stellte ich einen eigenen Text zusammen. Dieser geht „nur“ auf 10 Essays ein und ist ein Konzentrat mit 16 Seiten (ohne Titelseite). Mit Mehr Platz für Theopoesie ist er übertitelt und hier  zu finden.

Empfehle ich das Buch von Peter Sloterdijk zum Lesen? Na ja.

Es ist provozierend. Es ist erfrischend. Es ist voller Sprachspielerleien. Es ist ungnädig und doch empathisch. Es lässt den Kopf schütteln. Es lässt staunen angesichts von kreativen Sprachschöpfungen in den Geschichten der Religionen. Allein schon die Sprachlust von Sloterdijk, mit der er religiöse Begriffe kritisch beleuchtet und mit aufschlussreichen Querverweisen versieht, ist eine tolle Leistung. Hut ab! Mit den 20 Essays entsteht für Leser:innen ein spannendes religiöses Gedankengeflecht. Dieses dürfte wohl nicht in einem Zug konsumiert werden, es lässt sich nicht schnell, schnell überblicken.

Religion – auch ironisch betrachtet
Peter Sloterdijk schreibt weder für kirchliche Insider noch für Ignorant:innen von Kulturgeschichte. Der Autor schreibt mit ruhiger Gelassenheit – und mit viel Ironie. Eigentlich passen Ironie und „Religion“ nicht zusammen, er braucht den ironischen Blick hinter religiöse Formulierungen trotzdem. Und es passt! Die Sympathie, mit der er selbst „Unglaublichem“ begegnet, hat mit seinem Ansatz der Theopoesie zu tun. Theopoesie verdichtet menschliche Erfahrung, geht in die Tiefe und weiss, dass vieles in neuerer Schweizergeschichte (um damit anzufangen), in alter und moderner Kultur- und Religionsgeschichte eben Dichtung ist, Nachdichtung, Umdichtung. Wer Sloterdijk lesen will, muss Sprachspiele als solche schätzen und unterscheiden können. Wer Sloterdijk lesen will, muss ein Flair haben für Poesie und Philosophie. Für ihn sind zwar Kunst und Philosophie Rivalen der Religion. Aber ich sehe das überhaupt nicht so: es sind Freundinnen, die sich gegenseitig erfreuen.

Indisch-kalifornische Fusion
Peter Sloterdijk versteht sich nicht als Volksbelehrer. Wer ihn persönlich kennt – ich nenne Daniel Kehlmann und Hans-Ulrich Gumbrecht – wird an einen berühmten Lehrer des Philosophen erinnert. Dessen Haltung habe sich auf Sloterdijk abgefärbt. Es handelt sich um Chandra Mohan Jain, der sich Bhagwan Shree Rajneesh und später Osho nannte. Während eines früheren Aufenthalts in dessen Ashram im westindischen Poona / Pune sei Sloterdijk – so beschreibt es Gumbrecht – einerseits dazu übergegangen, im Sinn der Nirwana-Lehren auf eine umschriebene Selbst- oder Subjektposition zu verzichten. Andererseits habe er aus der westlichen Kybernetik jenen mobilen Selbstbezug (auch der komplexen Maschinen) übernommen, in dem ein Selbst gar nicht ohne Selbstbeobachtung und mithin ohne Selbstrelativierung zu haben ist. Aus dieser Konvergenz von leerem Selbst und mobilem Selbst ergebe sich eine kaum überbietbare Agilität der geistigen Operationen. Sie führe dazu, dass Sloterdijk keine markanten philosophischen Positionen besetzt (oder „verteidigen“ muss), mithin keinen Kanon von Vorzugsautoren, aber auch keine Schule haben kann (oder will) und deshalb seine Schriften nicht auf „zu beweisende“ Zielpunkte ausrichtet. Und gerade aus dieser Dynamik sei schon früh ein Impuls entstanden, der das Denken zu einer Praxis des Überraschens mache. Das zeigt sich auch deutlich im Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“, herausgegeben 2020.

Nochmals eine Einschätzung von Gumbrecht, der an der Standford University in Kalifornien lehrte: Zu Sloterdijks positionsaufhebender Agilität gehöre ausserdem, wohl als weitere Konsequenz der indisch-kalifornischen Fusion, eine besondere Beweglichkeit der intellektuellen Töne und Stimmungen. So nehme er Leser:innen auf labyrinthische Wege des Geistes mit, die immer anschaulich, immer affektgestimmt und nie auf ein Ende ausgerichtet sind.

Aufgrund meiner langsamen Lektüre in den Tagen und Nächten um Pfingsten stimme ich dieser Charakterisierung Sloterdijks zu. Es war – nebst einigem Stirnrunzeln und Kopfschütteln – vergnüglich, in die 20 Essays über Theopoesie einzutauchen.

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