Draussen schüttet es, begleitet von Blitz und Donner.
Drinnen sitze ich in meiner Werkstatt am Schreib- und Lesepult. Der Kalender sagt mir, es sei Ende Juni. Nächste Woche beginnen in Bern Schulsommerferien. Bei mir warten Bergschuhe und Rucksack auf Touren in den Bergen. Ich will sie nicht enttäuschen. Wann werden Prognosen ein stabiles Sommerhoch ankünden?
Draussen giesst und hagelt es wie aus Kübeln. Drinnen blättere ich in einem Reiseführer für Füsse. Marco Volken nimmt mich mit in 15 urtümliche Bergtäler der Schweiz (AT Verlag 2020). Sie sind mir zwar bekannt von kürzeren und längeren Wanderungen in den letzten Jahren. Der Autor erschliesst mir aber einen Mehrwert zu Natur, Kultur und Geschichte. Er bringt Bergtäler zum Sprechen. Ich gehe davon aus, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, das eine oder andere Tal ebenfalls aus eigener Anschauung kennen: Val Bavona – Binntal – Val Bregaglia – Val Colla – Val Ferret – Haut Val d’Hérens – Isenthal – Jaun – Kiental – Lötschental – Valle Onsernone – Valle di Muggio – Safiental – St. Antönien – Val Calanca.
Ich greife zwei heraus. Pars pro toto.
Im Kapitel zum Val Calanca wird an eine ETH-Studie von 2006 erinnert. Ihr Titel: „Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait“. Darin wird unser Land in 5 Zonen eingeteilt. Zur 5. Zone zählten Alpine Brachen. „Vergisst sie“, meinten einige Städter, es seien Zonen des Niedergangs. Das Gegenteil geschah. Neue Entwicklungen wurden lanciert, Naturpärke geschaffen. Ich erinnere mich an ein Pfadfindersommerlager im Calancatal im Jahr 1979. Meine damalige Pfarrei Bern-Bruder Klaus unterstützte in Selma ein Entwicklungsprojekt des dortigen Pfarrers. Er plante ein modernes Zentrum für Ferienlager. Unsere Pfarrei steuerte 30’000 Franken bei. Ob es je zustande kam, weiss ich nicht mehr. Was ich noch weiss: unsere Berner Stadtkinder genossen die zwei Wochen im Calancatal im Zeltlager, am liebsten wären sie länger geblieben. Ich halte Pfadilager und Tal in bester Erinnerung. Heute wird dort der Parco Val Calanca aufgebaut.
Das Valle di Muggio haben wir vor kurzem entdeckt. Es ist das südlichste Tal der Schweiz. 2014 wurde es zur Landschaft des Jahres gekürt. 80 Prozent sind bewaldet, eine grosse grüne Lunge. Die Breggia, der Hauptfluss, hat sich tief in den Talboden eingefressen, man sieht sie fast nie. Im untersten Abschnitt des Tals bildet der Fluss eine Schlucht, die Gole della Breggia. 2001 wurde hier der erste Geopark der Schweiz eröffnet. 200 Jahrmillionen Erdgeschichte können vor Ort studiert werden. Eigentlich bildet das ganze Tal ein einziges Freilichtmuseum: Natur- und Kulturschätze finden sich dort, wo sie hingehören. Ein ausgedehnter Rundgang zu Fuss dauert in diesem Museum nicht zwei Stunden, sondern rund eine Woche…
Ins Tal hinauf nach Muggio führen gleich zwei Postautolinien durch kleine traditionelle Siedlungen hindurch, eine ostseitig, eine westseitig. Und ab Muggio fährt ein Kleinbus weiter bis Roncapiano. Von dort stiegen wir zu Fuss steil hinauf auf den Monte Generoso. Manchmal führt der Weg genau der Grenze Schweiz / Italien entlang. Das Tal ist berühmt für Käsespezialitäten sowie für grosse Dorffeste, Sagra genannt. Letzteres mag ein wichtiger Grund dafür sein, dass sich die wenigen Einwohner:innen laut Studien weder einsam noch verlassen noch abgehängt fühlen. Je abgeschiedener die Ortschaft, desto grösser das Gefühl der Zugehörigkeit und die Solidarität. Dieser Befund dürfte wohl für viele urtümliche Täler gelten, sowohl in der Schweiz wie weltweit.
Was mich immer wieder fasziniert auf Wanderungen durch Landschaften da und dort, ist die Vielfalt, die Farbigkeit der örtlichen oder der regionalen Dialekte. So viele Worte, so manche Begriffe klingen beim ersten Hören unverständlich und erfreuen doch wie schönste Musik meine Ohren! Fast jedes Bergtal kennt seine eigenen Formulierungen und Bezeichnungen. MundArt, ein wertvoller Schatz. Ebenso vielfältig zeigen sich regionale Bräuche im Jahreskreis. Der „Reiseführer“ von Marco Volken erzählt eine Menge von Geschichten, von Sagen, von lokaltypischer Architektur, von praktischen Transportmitteln und von kreativen Menschen, obwohl „bloss“ 15 Bergtäler vorgestellt werden. Pars pro toto.
Welche Zukunft werden unsere Bergregionen haben?
Kinder müssen immer längere Schulwege gehen oder fahren, weil Schulhäuser nur „im Zentrum“ genügend Schüler:innen versammeln können. Ziehen auch junge Familien in urtümliche Täler? Gibt es dort neue Arbeitsplätze mit anständigen Verdienstmöglichkeiten für Frauen und Männer? Wie beeinflussen Klimawandel und höhere Temperaturen den Alltag der Menschen im Calancatal, im Valle di Muggio?
Drinnen liest einer in seiner Werkstatt ein Buch, das Bergtäler zum Sprechen bringt. Tiefes Tal – hoher Himmel.
Draussen regnet es in Strömen.
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