Geschichten neben offizieller Geschichte

Meine Kinder- und Jugendzeit verbrachte ich am Bodensee. Im März 1963 konnten wir ihn auf Schlittschuhen überqueren, Grenzen spielten für kurze Zeit keine Rolle. Normalerweise war Deutschland weit weg, obwohl nur 14 Kilometer Seedistanz zwischen Arbon und Friedrichshafen gemessen werden. Gefühlsmässig aber lagen Rieden SG, Zürich und Luzern viel näher, dort besuchten wir unsere Verwandten. Die Landesgrenze am See gab auch sonst manche Blickrichtung vor.

Im Buch „Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen“ von Jürgen Wertheimer lese ich, das Ziehen von Grenzen sei „Vater (und Mutter, Anmerkung MBB) aller Gedanken“. Erst die Grenze – dann die Ideologie. In Europa inklusive der Schweiz lässt sich diese These gut verifizieren. Europa wird seit langer Zeit von Grenz- und Demarkationslinien durchzogen, und oft verändern sie sich. Wer Grenzen schützen, sprengen, neu festlegen will, braucht Soldaten – und ein Narrativ, das weit in die Vergangenheit zurückgreift, am besten einen prägenden Mythos, eine hilfreiche Religionsdeutung. Es ist nicht überraschend: Kampf, Krieg und Religion, Kultur waren (sind!) Teile des gleichen Denkens. Im weitgefassten Begriff „Kultur“ finden sich eine helle und eine dunkle Seite, eine friedliche und eine kriegerische. Anders formuliert: eine feste Identität braucht ein klares Feindbild. Wessen Identität fluid oder hybrid ist, erhält Freundbilder.

Jede historische Epoche kennt eine Leitkultur, eine Kultur mit guten Aufnahme- und Sendefähigkeiten (die einander bedingen). Eine solche Leitkultur strahlt auf andere aus und prägt sie. Eine Leitkultur strebt Hegemonie an. Dies tut sie einerseits mit Malerei, Musik, Sport, Medien, Bildung, Geschichts-Montage. Anderseits arbeitet sie Hand in Hand mit monetären und militärischen Kräfteverhältnissen. Ohne Hilfe dieser Verhältnisse käme keine stringente Geschichts-Schreibung zustande.

Eine kurze Aufzählung von Soldaten neben Ideen soll das verdeutlichen:

  • neben antiken griechischen Philosophen steht der Hoplit, der schwer bewaffnete Fusssoldat im alten Griechenland
  • neben Redaktoren der hebräischen Bibel im 6./5. Jahrhundert v. Chr. stehen Perser mit Kyros dem Grossen
  • neben Vergil und seinem Werk „Aeneis“ im 1. Jahrhundert n. Chr. stehen römische Legionäre
  • neben der Ausrufung des Christentums Ende des 4. Jahrhunderts zur alleinigen Religion stehen römische Kaiser mit ihrer Infrastruktur
  • neben dem Koran steht eine arabische Armee
  • neben Thomas von Aquin stehen die Ritter
  • neben dem Wohlstand Europas stehen Eroberungen in anderen Kontinenten, Sklavenhandel und Ausbeutung von Rohstoffen
  • neben dem Aufbau der jungen Eidgenossenschaft stehen Söldner als Reisläufer und Kriegserzählungen
  • neben dem britischen Schriftsteller Rudyard Kipling steht die Royal Navy
  • neben Hollywood steht das Silicon Valley (mit dem Pentagon)
  • neben Marilyn Monroe stehen der Greenback und zehn Flugzeugträger
  • neben europäischen Intellektuellen und Dichterinnen steht die NATO

Der französische Philosoph Régis Debray fasst seine von mir ergänzte Aufzählung so zusammen: „Den grössten Kanonen kommt es zu, jeweils den universellen Kanon des Schönen, Wahren und Gerechten festzulegen. Immer die alte Leier. Klagelieder nutzlos. Das ist das uralte Gesetz des Werdens.“

Wo und wie kann diesem historisch belegten „Gesetz des Werdens“ wenigstens ein kleiner Kontrapunkt entgegengesetzt werden?

Jürgen Wertheimer nennt als Ort und Methode Beispiele aus der Literatur. Klar, er arbeitet als Literaturwissenschaftler und kennt sich in diesem Bereich aus. Wer selber viel und gerne Bücher aller Art liest, wird ihm wohl zustimmen. Vorbilder und Aussenseiter:innen, so schreibt er, begleiten Leser:innen nicht nur als emotionale Orientierungspunkte. Sie verklammern darüber hinaus Räume und Zeiten, bilden Wegmarken und Verbindungslinien unserer kulturellen Topographie über Tausende von Kilometer und über Jahrhunderte hinweg, überspringen locker Grenzlinien. Sie erzählen lesenswerte Geschichten neben der offiziellen Geschichte.

Literatur ist ein gewaltiger Klang- und Resonanzraum. Sie kann Zwischenräume aufspüren, Zwischenlösungen anbieten. Zum Glück gibt es auch Übersetzungen. So vermag ich als Leser:in in eine andere Kultur hineinspringen, Ähnlichkeiten finden, mich inspirieren lassen – und mich neu entdecken. Ohne dass Soldaten (m)einen Grenzzaun bewachen.

Neben der Leserin, neben dem Leser liegt ein aufschlussreiches Buch voller Ideen.

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