Von Arbor felix in die grosse Welt

Als 13-jähriger Bub wählte ich in der Sekundarschule das Freifach Latein. Jeweils zweimal pro Woche am frühen Morgen um 7 Uhr besuchten eine Schülerin (Eva!) und ich den Lateinunterricht. 1965 wollte ich später einmal an ein Gymnasium gehen und anschliessend Theologie studieren, um Priester/Ordensmann zu werden. Latein musste also sein. Ich war stolz auf das neue Lehrmittel und die ersten Vokabeln.

Meine Kinderzeit verbrachte ich in Arbon am Bodensee. Auf Lateinisch hiess die Stadt Arbor felix – glücklicher Baum. Das Ortswappen zeugt bis heute davon. Ausgrabungen aus der Römerzeit lassen sich in Arbon anschauen, es gibt auch eine Römerstrasse. Damals, 1965, hatte ich zwar keine Ahnung von historischen Entwicklungen. Aber mein Interesse an grösseren Zusammenhängen und alter Geschichte war schon geweckt. Im Gymnasium in Appenzell kamen – neben den Basisfächern – noch Altgriechisch und Kunstgeschichte hinzu. Davon weiss ich nicht mehr viel, ich war wohl viel zu jung und zu naiv für solche grossen Stoffe.

Der Zugang zur grossen Welt begann im Lauf des Theologiestudiums in Fribourg. Ich schnupperte im Hebräisch-Kurs. Und mit der Theologischen Fakultät reisten wir 1978 nach Israel und Palästina, um vor Ort neue Ausgrabungen zu besuchen. Archäologie gehörte zum Studienfach Altes Testament. Privat kurvten Rosmarie und ich ab 1975 im Citröen 2CV meines Bruders und im R5 meines Vaters quer durch Osteuropa. Mein Horizont öffnete sich leicht.

Im Jahr 1985 besuchte ich Rom ein erstes Mal, zusammen mit Rosmarie und mit Fachleuten von der Universität Freiburg. Innerhalb einer Woche tauchten wir jeden Tag in eine andere Geschichtsepoche der „Ewigen Stadt“ ein. Als besondere Orte in meiner Erinnerung bleiben der Petersdom mit dem sogenannten Grab des Petrus (er soll von Arthrose im rechten Knie geplagt worden sein…), die Nekropole, ein alter römischer Friedhof, tief unter dem Vatikan und die Basilika San Clemente mit dem persischen Mithras-Heiligtum im zweiten Untergeschoss. Mithras begegneten wir später unter anderem im Wallis und natürlich im persischen Kulturraum.

Bis heute, wir sind im Jahr 2022, bereisen Rosmarie und ich Destinationen in Europa, im Vorderen und Mittleren Orient sowie noch weiter ostwärts in Asien. Und wenn wir nicht reisen, lese ich Bücher. Zum Beispiel von Peter Frankopan Licht aus dem Osten und Die neuen Seidenstrassen. Gegenwart und Zukunft unserer Welt. Und von Ulrich Tilgner Krieg im Orient. Das Scheitern des Westens.

In den letzten Wochen vertiefte ich mich in das Buch des Literaturwissenschaftlers Jürgen Wertheimer aus Tübingen mit der Überschrift Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen. Schon in meinem Blog vom September 2021 habe ich kurz darauf hingewiesen. Das Buch unternimmt auf über 500 Seiten eine Reise durch mehr als 2000 Jahre Kulturgeschichte. Ich habe es für mich und für interessierte Leser:innen in einem Dossier auf 38 Seiten zusammengefasst, es kann hier geöffnet werden.

Beim Lesen und Notizen machen in meinem Büro für Religion Gesellschaft & Kultur gingen mir mehrere hohe Stapel an Informationen durch Kopf, Bauch und Herz: Bücher, Zeitschriften, Zeitungsartikel, Reiseerinnerungen. 50 Jahre nach der Matura in Appenzell, 57 Jahre nach meiner ersten Lektion Latein in Arbor felix habe ich nun als nächstens 70-jähriger weisser Mann das Gefühl, ein klein wenig mehr als damals von der sogenannt „kleinen“ und von der sogenannt „grossen“ Welt zu erahnen. Die Unterschiede zwischen beiden dürften wohl nicht so gross sein – jedenfalls wenn ich mich auf eigene, sehr subjektive Erfahrungen und auf Reportagen „von der Basis“ stütze. Politisch und kulturell mag es Konzepte geben, die sich theoretisch und philosophisch widersprechen. Geld, Waffen, Wasser sowie Zugänge zu kulturellen Leistungen sind sehr ungerecht verteilt. Hunger dort – Überfluss hier, das tut weh.

Wenn ich Analysen von Jürgen Wertheimer lese, wenn ich schweizerisches Polittheater in der Stadt, in der ich lebe, verfolge, keimt meine Hoffnung an einem kleinen Ort. Vielleicht genügt das zum Leben: ein kleiner Ort und literarische Figuren, die sogenannte Nebenrollen einnehmen: Unterprivilegierte, Aussenseiter, Provokateure, eigenwillige Individuen. Sie halten dem „System“, dem Mainstream konkret einen Spiegel vor. Literatur als Gegenstimme. Klein und nebenan – eben daneben – blühen kreative Felder.

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