Erinnern Sie sich an die Fussball-WM 1974? Der damalige Weltmeister dürfte noch bekannt sein. Doch welche Mannschaft erreichte überraschenderweise den 3. Platz? Den „kleinen Final“ gewann Polen gegen Brasilien. Ich erinnere mich an jene Zeit. Denn kurz darauf reisten Rosmarie und ich im Döschwo durch Polen. Die Freude über den 3. Platz spürten wir an manchen Orten. Fussball war aber nicht Thema unserer Reise. Wir wollten der Geschichte, der Kultur, der Aktualität eines leidgeprüften Landes begegnen. Im Süden, in Krakau, trafen wir auf Spuren der uns bisher nicht bekannten Landschaft Galizien, streiften kurz Westgalizien. Als Königreich Galizien und Lodomerien wurde es 1804 der k.u.k. Monarchie angliedert und gehörte unter polnischer Führung von 1867 bis 1918 als Kronland mit vollständiger Autonomie zu Österreich-Ungarn. Seine Hauptstadt war Lemberg, eine Barockstadt, das Florenz des Ostens – heute Lwiw genannt. In Ostgalizien lebten u.a. Ruthenen. Heute sind sie als Ukrainer:innen bekannt.
Mit wenigen Zeilen deute ich hier einen historischen Bogen über jener Region an, der bis ins 6. Jahrhundert zurückreicht und wechselvolle Geschichten zu erzählen wüsste. Seit den 1970-er Jahren hatte ich den Wunsch, nach Ostgalizien und Lemberg zu fahren. Ein Besuch kam nicht zustande. Dafür reise ich hie und da literarisch dorthin, auch jetzt wieder.
Seit 1945 gehört Ostgalizien zur Ukraine. In der Ukraine, im zweitgrössten Land Europas, führen russische Soldaten einen erbarmungslosen Krieg. Heute ist Tag 15. Noch ist der Westen des Landes von den Kämpfen verschont. Aber Flüchtlinge strömen in riesiger Zahl durch Galizien nach Polen, wo bereits viele Ukrainer:innen leben, sowie durch die nördliche Bukowina nach Rumänien in die südliche Bukowina, ebenfalls nach Ungarn.
Galizien liegt geografisch im Herzen Europas. Früher war es ein Zentrum vieler Kulturen nebeneinander. In dieser Region und in der Ukraine fliessen Geschichten und Sensibilitäten polnisch-litauischer, habsburgischer, russischer, deutscher, rumänischer, ungarischer, jüdischer, tatarischer Kulturen und Herrschaftsformen zusammen. Die Ukraine ist eine Begegnungszone für vielgestaltiges orthodoxes und katholisches Christentum mit dem Islam (Tataren- und Turkvölker). In Europa ist die Ukraine wohl dasjenige Land, das – zum Guten oder zum Schlechten – zur Bewährungsprobe werden dürfte, ob und wie eine europäische Gemeinschaft möglich ist, die nicht auf dualistischen (gegensätzlichen) Ausgrenzungen beruht. Im Augenblick und wohl für längere Zeit sieht es nach zweitem aus, nach einer Dynamik zum Schlechten. Erneutes Blutvergiessen trifft das Land schmerzlich. Es befindet sich im Zentrum eines für mich sinnlosen brutalen Krieges. Heute, am 10. März 2022, bringt Tag 15 wieder Flucht, Zerstörung, Unheil, Tod. Und Widerstand mit Hoffnung.
Ukraine bedeutet auf Deutsch „Grenzland“ (an der Grenze zur Steppe) oder „am Rand“: am Rand Europas, am Rand der EU, am Rand Russlands, am Rand des Interesses (bis vor wenigen Tagen). Noch bildet die Ukraine „die Frontlinie zwischen Demokratie und autoritärer Führung“ (Anne Appelbaum). Wie lange wird sie wohl bestehen bleiben und Grenzüberschreitungen ermöglichen?
Menschen in der Ukraine, so lese ich, wollen in Loyalität mit ihren russischen Geschwistern leben. Sie wollen nicht, dass man aus nationalistischen Gründen die russische Sprache an den Schulen unterdrückt. Sie wollen sich nicht von kirchlichen und kulturellen Werten lossagen müssen, die sie mit der russischen Welt verbinden – aber nicht um den Preis einer imperialen Unterdrückung. Andererseits gelte: Menschen in der Ukraine wollen auch mit dem Westen Austausch pflegen, sie suchen eine gute Ausbildung für ihre Jugend, sie wollen ihren Lebensstandard verbessern. Sie wollen von der Freizügigkeit des Arbeitsmarkts und des Güterverkehrs profitieren – doch sie warten darauf, dass der Westen seine Versprechungen an die Ukraine einlöst.
Gerade davor fürchten sich Wladimir Putin und sein Umfeld. Gerade darum lässt er junge Soldaten in der Ukraine wüten. Er will wohl das ganze Land ohne Rücksicht auf Tote seinem Einflussbereich einverleiben. Dieses wird ihm schwer aufliegen. Die Ukraine ist nicht Russland, Vielfalt ist ihre Stärke. Ein Landesname erscheint wörtlich als geopolitisches Symbol: „Die Ukraine ist die Grenze“ (Navid Kermani). Die Grenze zwischen Europa und Russland. Lässt sie sich gewaltsam verschieben? Kann eine solche Art von Identität zerstört werden? 1863, 1876, 1917/18, 1929, nach 1945 gelang es nicht.
1991 blühte die Ukraine mit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion auf. 2004 und 2014 noch zweimal: Orange Revolution, Euromaidan. Und 2019 das letzte Mal: 73 Prozent der Ukrainer:innen wählten einen Aussenseiter, einen russischsprachigen Juden, einen Komiker, einen Fernsehstar zu ihrem Präsidenten. Ich sehe Wolodymyr Selenskyj seit 15 Tagen im Fernsehen.
Was im Fernsehen und im Alltag wegen des Krieges nicht mehr stattfindet, ist Fussball. Die Ukraine steht im Playoff-Halbfinal zur Qualifikation für die Fussball-WM 2022. Soeben wurde ihr Spiel gegen Schottland vom März in den Juni verschoben. Bereits einen anderen Halbfinal gewann Polen mit Freilos, weil Russland ausgeladen wurde. Wird Fussball zu einem kleinen Hoffnungszeichen für Polen und für die Ukraine? Oder verwandelt sich schon in zwei, drei Tagen mein Traum in Realität? Darin sah ich junge Soldaten aus zwei Ländern plötzlich Panzer und Schützengräben verlassen und in Sportausrüstung einen Fussballmatch beginnen. Sie spielten ausgelassen wie Kinder. Mit freudestrahlenden Gesichtern.
PS: Lesen Sie auch in der Rubrik regekult aktuell im Tage-Buch den Eintrag vom 10. März 2022