Gehirn (I): Eine faule Sau

Denken Sie manchmal bewusst an Ihr Gehirn? Was nicht das Gleiche ist, als wenn Sie manchmal bewusst mit Ihrem Gehirn denken. Während der letzten Wochen kamen mir zahlreiche Bücher, Interviews und Artikel unter die Augen, die sich mit dem Gehirn beschäftigen. Ich bin Hypothesen begegnet, die ich notierte und in zwei Blogs zu formulieren versuche, hier im März-Blog (I), in wenigen Tagen im April-Blog (II).

Wozu ist das Gehirn nützlich? Laut Hans-Georg Häusel und anderen Fachleuten achtet es auf die Grundbedürfnisse Nahrung und Sexualität, also auf Überleben und Reproduktion. Vier Emotionssysteme seien bedeutsam: Sicherheit – Harmonie (soziale Bindungen, Fürsorge) – Neugier – Dominanz. Die deutliche Hypothese von Häusel: „Das Gehirn ist eine faule Sau.“ Hoppla! Das Gehirn schätzt neue Herausforderungen nicht. Schon gar nicht Veränderungen. Neurolog:innen behaupten, wenn drei Faktoren gleichzeitig zusammenspielen, könnten Veränderungen ganz langsam greifen:

  • hoher Leidensdruck
  • eine versprochene Belohnung für Veränderungen (im Belohnungszentrum des Gehirns wird dann Dopamin ausgeschüttet)
  • Geduld bei den Akteur:innen.

Schnell passieren deshalb Veränderungen nicht. Wer morgen oder nach den Ferien oder am 1. Januar sein/ihr Leben in neue Bahnen lenken möchte – keine Chance, nur Frustration.

Stefan Kölsch und viele andere weisen darauf hin, dass sich das Gehirn im Lauf der Evolution bei Tieren und später beim Menschen (wo ist der Unterschied?) für ein Leben im Urwald entwickelt habe, eben für Überleben und Reproduktion. Vor 200 Millionen Jahren habe es begonnen – aus der Spitzmaus entwickelten sich Säugetiere. Die Maus konnte kauen, was mehr Energie verschaffte. So konnte sie ihr Gehirn entwickeln. Dieses schätzte blitzschnell Gefahren ein, sah subjektiv überlebenswichtige Alternativen. Tier und Mensch konnten/können sich natürlich objektiv auch verschätzen, weil das Gehirn seit uralten Zeiten eigene Bewertungen vornimmt. Gehirne funktionieren wie „damals im Urwald“. Nicht vergessen sollten wir, dass der Homo sapiens sapiens (mit einem grösseren Gehirn als Dinosaurier) seit 1 Million bis 500’000 Jahren existiert, die Sesshaftigkeit des Menschen aber erst seit kurzen 11’000 Jahren. Uralte Strukturen vor der Sesshaftigkeit – im Urwald, bei Nomaden – lassen sich nicht rasch, rasch verändern. Das Gehirn ist eine faule Sau.

Gewohnheiten und Routinen sind, wie erwähnt, schwer in neue Bahnen zu lenken. Was jedoch bei Primaten weiterentwickelt wurde, war soziales Verhalten. Sie sorgen sich längere Zeit um Nachwuchs, Gruppenstrukturen, Kommunikation. Sie reagieren auf Emotionen, Gesichter, Körpersprache, auf soziale Hierarchie. Sie lernen durch Abgucken. Das beobachte ich immer wieder bei kleinen Kindern zwischen 2 und 3 Jahren – ein wunderschönes Erlebnis für mich als Vater und jetzt als Grossvater. Lernen und Wissen weitergeben, das ist unentbehrlich für die Entstehung von Kultur.

Prinzipien der unterbewussten Auswahl
Stefan Kölsch nennt sieben Prinzipien, welche die unterbewusste Auswahl von Handlungs-Alternativen bestimmen:

  • Sichere Gewinne werden bevorzugt gegenüber etwas Unsicherem.
  • Grosse riskante Gewinne werden stark bevorzugt gegenüber kleinen sicheren Gewinnen.
  • Wenn ein Verlust unausweichlich scheint, wird eine riskante Chance stark bevorzugt.
  • Um die Unsicherheit eines grossen Verlustes zu reduzieren, werden Kosten in Kauf genommen, selbst wenn dieser Verlust unwahrscheinlich ist.
  • Verluste lösen verhältnismässig mehr Minuspunkte im Gehirn aus, als Gewinne Pluspunkte auslösen (= Verlust-Frust).
  • Doppelte Gewinne lösen nicht doppelt so viele Pluspunkte im Gehirn aus.
  • Abhängig von der Situation wird der gleiche Gewinn mehr oder weniger positiv bewertet.

Lebenskunst besteht folglich darin, Ziele im Alltag realistisch, eher tief und nur in kleiner Zahl zu benennen, um Enttäuschungen und Frust möglichst wenig Chancen zu geben – und um Erfolgserlebnisse zu feiern (Dopamin wird ausgeschüttet).

Wie lässt sich die faule Sau bewegen? Spontan und intuitiv mit unterbewusstem Denken sei dies nicht möglich, sagen Hirnforscher:innen. Eher möglich sei dies mit viel Training in bewusstem Denken – das brauche jedoch Wille, Konzentration, Anstrengung, Zeit. Mit anderen Worten: Arbeit.

PS: Der April-Blog entlarvt den Begriff „Vernunft“ als Illusion.

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