Die Lage aushalten, ohne verrückt zu werden

„Tempora mutantur, et nos mutamur in illis“. So hiess der Titel meines Blogs vom 28. Februar 2020. Heute, am 22. März 2020, erhält jener Titel eine neue Lesart. Sie hat sich unterdessen verändert. „Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen.“ Das bezieht sich nun, wie so vieles, auf die Coronavirus-Pandemie. Dabei ist das Bewusstsein für Veränderungen eine uralte Geschichte. Jetzt schwimmt sie, wieder einmal, obenauf. Auch die ebenfalls uralte Erkenntnis des Philosophen Sokrates in jenem Text vom 28. Februar dürfte in diesen Tagen wohl Oberwasser bekommen: „Ich weiss, dass ich nichts weiss.“ So ist es.

Ich schreibe mein Blog mit „trial and error“, mit Versuch und Irrtum. Keine Ahnung habe ich, wie sich die globale und lokale Situation in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt: ökonomisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell, mental, psychisch. Ich weiss nicht, wie lange die „ausserordentliche Lage“ (Bundesrat) andauert. Ich weiss nicht, ob auch ich eines Tages persönlich vom Coronavirus betroffen sein werde. Prognosen mache ich keine. Was ich hingegen weiss: Grosskinder hüten geht nicht. Reisen geht nicht. Termine abmachen geht nicht. Dies gehört(e) zum „normalen“ Alltag. Zum Alltag gehört mein Home-Office. Zum Alltag gehört Lesen und Schreiben. Neu gehört zum Alltag, dass ich mit meinen 68 Jahren zu einer Risikogruppe für das Coronavirus gezählt werde und darum vom Bundesrat im Radio jede Stunde direkt angesprochen werde. So ist es. Physical Distancing ist angesagt. (Den Begriff „Social Distancing“ brauche ich in diesem Kontext nicht.)

Ich gehe davon aus, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die Entwicklungen der Pandemie aufmerksam verfolgen. Darum beleuchte ich nur einen kleinen Aspekt der unzähligen Diskussionen und Wortmeldungen – etwas Sprachgebrauch, etwas Philosophie. Was fällt Ihnen dabei auf?

Mir fallen beim Zeitunglesen und beim Radiohören einige „Superlative“ auf. Jeder für sich bietet Stoff für emotionale Auseinandersetzungen. Beispiele:

  • „Wir befinden uns im Krieg“ (Emmanuel Macron).
  • „Die Corona-Epidemie könnte sich zur schwersten globalen Krise ausweiten, die die Welt seit Jahrzehnten gesehen hat… Es steht viel mehr auf dem Spiel als die allein schon herausfordernde Aufgabe der gesundheitlichen Bekämpfung einer globalen biologischen Epidemie.“ (Martin Booms).
  • „Wir betreten politisches Neuland“ (Dave Sinardet, Politologe). Dort werde es zahlreiche Umwälzungen geben.
  • „Wir haben eine ausserordentliche Lage“ (Bundesrat).
  • „Die verstörendste Lektion, die die anhaltende Virus-Epidemie für uns bereithält: Der Mensch ist viel weniger souverän, als er denkt. Er trägt weiter, was ihm zugetragen wird. Er spricht und weiss nicht, was er sagt. Er taucht auf – und irgendwann verschwindet er wieder von der Erdoberfläche. Das muss er aushalten können, ohne verrückt zu werden“ (Slavoj Žižek, Philosoph).
  • „Ums Leben geht’s, nicht ums Überleben“ (Maurizio Ferraris, Philosoph in Turin).
  • „Wir müssen uns neu erfinden. Es gibt ein Kulturleben nach Corona. Und vielleicht ist die Pandemie eine Chance, aus dem alten Trott auszubrechen.“ (Tobias Sedlmaier)

Und Zitate ohne Absender:

  • „Es braucht die Solidarität ALLER Generationen.“
  • „Wir müssen lernen, ein weit zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen.“
  • „Uneindeutigkeit auszuhalten, ist eine gute Übung.“
  • „Es braucht die Ko-Existenz von Widersprüchlichem.“
  • Wirtschaftsleute reden bei der Pandemie von einem „exogenem Schock“ (= von äusseren Ursachen bedingt). Unter Schock sei aber kein cooles Handeln möglich.
  • „Die Bewährungsprobe steht uns noch bevor. Sie wird ein Reifetest für die Gesellschaft.“

Lässt sich die Frage heute bereits stellen, ob wir etwas aus der Corona-Pandemie lernen? Für mich kommt diese Frage zu früh. Wie wenn es ein Lehrbuch mit Antworten gäbe. Wie wenn wir aus einer Schublade die Problemlösung herausziehen könnten. Doch was die nächsten Wochen bringen werden, weiss ich schlicht nicht.
Erkenntnisse der Hirnforschung stimmen mich zurückhaltend. Der Mensch lasse Veränderungen in seinem Verhalten, das auf alten Gesetzmässigkeiten gründet, nur zu, wenn drei Faktoren gemeinsam vorhanden seien:

  • hoher Leidensdruck
  • eine Belohnung
  • Geduld

Der erste Faktor wirkt. Leidensdruck ist konkret und spürbar. Ob die beiden anderen Faktoren und in welcher Form wirken, wage ich heute nicht zu beurteilen. Ich habe keine Ahnung. Was ich aber aushalten möchte, ohne verrückt zu werden.

Der Zukunftsforscher Daniel Dettling schreibt zum Schluss eines längeren Textes in der NZZ vom 18. März 2020: „Es geht um die Stärkung lokaler und regionaler Strukturen sowie globaler Systeme und ihrer Institutionen. Auf die schnelle Hyperglobalisierung kann eine langsamere, achtsame Glokalisierung folgen. Ihre Wirtschaft und Gesellschaft ist resilenter (= belastbar, elastisch u.ä.) und robuster als die heutige.“

Halten Sie physical distancing! Bleiben Sie gesund!

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