Tempora mutantur, et nos mutamur in illis

„Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen“. Als junger Lateinschüler in der Sekundarschule begegnete ich diesem Ausspruch schon früh. Habe ich ihn auch begriffen? Wahrscheinlich schon. Denn es ist eine banale Feststellung, die jedeR macht. Allein Übergänge von der Kindheit in die Pubertät, von der Ausbildung ins Arbeitsleben oder vom Single zum Familienmenschen bringen in mancher Hinsicht grosse Änderungen mit sich. Zudem bin ich an einem Ort aufgewachsen, der historisch unterschiedliche Perioden erlebte. Hinweise auf prähistorische Pfahlbauten im 4. Jahrtausend v. Chr. lässt Arbon seit 2011 die Auszeichnung „Weltkulturerbe der UNESCO“ tragen. Während der römischen Herrschaft stand auf dem Bergli eine befestigte Siedlung mit Namen Arbor felix (der glückliche Baum). Im 7. Jahrhundert soll Gallus in Arbon und im Arboner Forst seine Missionswanderung Richtung Italien gestoppt haben, Kolumban zog weiter (PS 1: Historisch gesehen ist für diese Zeit aber vieles unklar.) Klosterleute aus der Reichenau gründeten rund 100 Jahre nach dem Tod des Gallus über dessen vermuteter Zelle im Wald am Bach Steinach das Kloster Sankt Gallen. (PS 2: Wurde Gallus als „invention of tradition“ verwendet?)
Seit dem frühen Mittelalter gehörte Arbon zum Bistum Konstanz. Ende des 15. Jahrhunderts kam die Region unter die Vogtei der Eidgenossenschaft, bis Napoleon 1803 den eigenständigen Kanton Thurgau errichten liess. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Stadt am Bodensee zum Industrieort. Die Firma Saurer AG mit ihren legendären Lastwagen oder Postautos ist mancherorts bekannt. Heute wird Saurer aus China geleitet. Fahrzeuge gibt es keine mehr. So viel, so kurz. Im Frühling 2020 werde ich eine persönlich gefärbte Reportage über Arbon schreiben, Vorarbeiten haben begonnen. (PS 3: Wegen der Corona-Pandemie verzögert sich die Reportage wohl in den Sommer 2020 hinein.)

Von der lokalen Geschichte meines Geburtsortes ziehe ich eine Kurve zur weltweiten Religionsgeschichte. Vor mir liegen drei dicke Bücher. Sie illustrieren ebenfalls den lateinischen Satz im Titel. Und rufen nach einer weiteren lateinischen Weisheit: „Scio me nihil scire.“ Sie geht auf den griechischen Philosophen Sokrates zurück und bedeutet. „Ich weiss, dass ich nichts weiss.“

Als 20-jähriger begann ich parallel zu diversen handfesten Praktika mein Studium der Theologie, der Religionswissenschaft und der Journalistik. Damals hatte ich keine Ahnung, davon aber viel. Fast 50 Jahre später stimme ich als Pensionär, Grossvater und vielgereister Mann Sokrates noch immer zu: ich weiss, dass ich nichts weiss. Oder höchstens wenige Fragmente. Geblieben sind mir Entdecker-Freude und Neugier. Ich geniesse Horizonterweiterungen und Kombinationen aus unterschiedlichsten Ressorts.

Um einige religionswissenschaftliche Fragmente zu verbinden und kritische Fragen zu stellen, lädt die Lektüre der drei Bücher ein. Es sind:
Bernhard Maier, Die Ordnung des Himmels. Eine Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute
– Neil MacGregor, Leben mit den Göttern
– Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.), Imperium der Götter. Isis – Mithras – Christus. Kulte und Religionen im römischen Reich

Hier nur kurze Beobachtungen, ein längerer Text wird in der Rubrik Mikroskop unter „Kulturelle Phänomene“ folgen. (PS 4: „Vom Umgang mit Gottheiten – eine Weltreise“. Am 23. Mai 2020 hochgeladen, ebenso alle 4 PS.)

Bernhard Maier beginnt mit ältesten Zeugnissen von Religion, mit der Kultur von Bestattungen. Gemessen an der Entwicklung der Gattung Mensch lässt sich wenig überblicken, vielleicht knapp 40’000 bis 80’000 Jahre. Fast nichts! Und schriftliche Überlieferungen finden sich erst im frühen dritten Jahrtausend. Also „gestern“ um Mitternacht. Der Autor beleuchtet in 25 Kapiteln Eigenheiten, Parallelen, Schlüsselmomente bekannter Religionen. Und stellt fest: Was noch 1960 als „gesichertes Wissen“ galt, sei heute bereits überholt. Wir hätten jetzt breitere Informationen. Was werden wir morgen „wissen“? Wo werden Revisionen ansetzen?

Neil MacGregor wählt mit seinen 30 Kapiteln einen anderen Zugang. Er thematisiert unter anderem Feuer, Wasser, aufgehendes Licht, Geburt und Körper, Gebet und Gesang, das Theater des Glaubens, die Macht der Bilder, irdische sowie himmlische Mächte. Als Museumsmann lädt er ein zum Rundgang durch die Wunderkammer der Religionsgeschichte. Der Kurator bringt seine ausgestellten Objekte zum Sprechen. Auch er beginnt vor 40’000 Jahren, mit dem „Löwenmenschen von Ulm“. Er freut sich an epochenüberschreitenden Vergleichen und beobachtet Religiöses selbst im sogenannten modernen Laizismus. Sein Buch, eine schwergewichtige Schau-Schule!

Gehen wir nochmals ins Museum, in der Hand einen umfangreichen Führer. Das Badische Landesmuseum Karlsruhe zeigte 2013 Kulte und Religionen im römischen Reich. Wir tauchen ein in die breit gefächerte Religio Romanorum. Wir erleben machtvolle Göttinnen, Kulte rund um die Magna Mater und Isis. Dieser Hintergrund ist notwendig, um spätere Marien-Kulte zu verstehen. Wir begegnen göttlichen Stierbändigern. Einer davon war Mithras, am 25. Dezember geboren. Die Christen übernahmen u.a. dieses Datum, als sich das Christentum im römischen Reich durchgesetzt hatte. Dafür wurden pagane Kulte als „heidnisch“ verboten. Und wir verfolgen das antike Christentum auf dem Weg zur Weltreligion, indem es persische, ägyptische, römische, jüdische, orientalische Elemente inkulturierte, einverleibte. Warum reden Christ*innen eigentlich immer noch von ihrer monotheistischen Religion?

Den Besuch von Museen, das Lesen von kulturgeschichtlichen Büchern ergänzen Reisen in bekannte und unbekannte Welten. Unterwegs gab und gibt es kulturell Gemeinsames zu entdecken. Und die Bestätigung zweier „moderner“ Weisheiten: Scio me nihil scire. Und: Tempora muntantur, et nos mutamur in illis.

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