Mit beiden Füssen auf dem Boden

Gestern kamen wir, Rosmarie und ich, vom Spaziergang zurück. Neunzig Minuten, solange wie ein Fussballspiel in der Regel dauert, bewegten wir unsere Körper in einem grossen Kreis durch die Stadt Bern. Je nach Streckenabschnitt begegneten wir vielen Menschen, jungen und alten, oder nur wenigen. Einige trugen Masken, die meisten verzichteten an der frischen Luft auf das moderne Accessoire. Abstand voneinander einzuhalten, war kein Problem. Wir spazierten an die Aare hinunter und ein Stück weit dem Fluss entlang. Wir stiegen zum Waisenhausplatz hinauf und querten den leeren Bundesplatz. Wir bedauerten, dass wir auf der sonnenbeschienenen Bundesterrasse nur Wolken statt schneebedeckte Berge zu sehen bekamen. Zufrieden kehrten wir in unser Quartier zurück. Es war ein schöner Spaziergang.
Heute lese ich in der NZZamSonntag einen Text von Nicole Althaus. Sein Titel: „Das Jahr des Spaziergangs“. Die Autorin stellt sich vor, dass sich das Jahr 2020 „als Jahr der flanierenden Kontaktaufnahme“ in unser kollektives Gedächtnis einbrennen könnte.
Jetzt inspiriert mich ihr Text zu diesem Blog. Er blickt – im Gegensatz zum letzten Blog – nicht in die Weiten des Himmels, sondern auf den nahen Boden, auf die Füsse.

Ich stimme Nicole Althaus bloss teilweise zu. Klar, Reisen in andere Länder konnten 2020 aus bekannten Gründen nicht stattfinden. So waren auch wir von Januar bis Dezember sehr oft zu Fuss in der nahen und näheren Umgebung unterwegs. Zum Einkaufen spazierten wir ins Stadtzentrum. Wir flanierten gemütlich durch die Innenstadt. Im Schnellgang machten wir Tempo durch den nahen Wald. Wir wanderten bergwärts, talwärts, auf angenehmen Wander- und steilen Bergwegen.
Nur: wir spazieren, wir wandern seit unserer Kindheit. Wenn ich ein Bild von mir malen müsste, wäre es dasjenige des Fussgängers. „Je ne suis qu’un piéton, rien de plus“ – das einprägsame Zitat von Arthur Rimbaud gefällt mir. Ich rede aus Erfa…, pardon Ergehung. Jedes Jahr war bisher ein Jahr des Spaziergangs. Ohne gehen, ohne spazieren, ohne wandern, ohne Fussgang würde mir etwas Wichtiges fehlen. Erling Kagge sagt es so: „Gehen ermöglichte uns, so zu werden, wie wir sind, und wenn wir kaum noch gehen können, hören wir auf, die Person zu sein, die wir sind. Dann sind wir zu etwas anderem geworden.“ So wird es sein. „Gehen wir!“

Ein berühmter Spaziergänger ist Robert Walser. Er hat seinen Lebensstil literarisch verarbeitet.1917 schrieb er die Erzählung „Der Spaziergang“. Darin steht unter anderem der Satz: „Zuhause eingeschlossen würde ich elendiglich verkommen und verdorren.“ Dessen Ich-Charakter verwandelt sich beim Spazieren in ein „lebendiges Gedicht“. In wenigen Zeilen beschreibt er einen, der mit beiden Füssen auf dem Boden steht, überlegt und genau hinschaut: „Höchst liebevoll und aufmerksam muss der, der spaziert, jedes kleinste lebendige Ding, sei es ein Kind, ein Hund, eine Mücke, ein Schmetterling, ein Spatz, ein Wurm, eine Blume, ein Mann, ein Haus, ein Baum, eine Hecke, eine Schnecke, eine Maus, eine Wolke, ein Berg, ein Blatt oder auch nur ein armes weggeworfenes Fetzchen Schreibpapier, auf das vielleicht ein liebes gutes Schulkind seine ersten ungefügen Buchstaben geschrieben hat, studieren und betrachten.“ Der langsame Spaziergänger, die Spaziergängerin schenkt sich Zeit, damit er/sie sich umschauen kann. Nie gesehene schönste Details stechen plötzlich ins Auge, Unerwartetes kommt überraschend ins Blickfeld.

Anfang Dezember begann ich kurze Geschichten zu schreiben. Tag für Tag wollte ich jeweils ein Blatt füllen, der Rahmen mit der Textlänge war vorgegeben. Jedes Blatt sollte ein Adventsfenster darstellen. Immer am frühen Morgen legte ich ein neues Blatt in Rosmarie’s Büro.
Der erste Satz hiess: „Am ersten Tag flanierte sie durch die Stadt.“ Sie, das war eine literarische Figur, namenlos. Erst am fünften Tag gab ich ihr einen Namen, der zum Advent passt: Maria. Als ihren Wohnort bestimmte ich Betlehem, genauer: Bern-Betlehem. Aus den Blatt-Geschichten, aus den Tag-für-Tag-Geschichten entwickelte sich, nicht beabsichtigt, eine fortlaufende Erzählung, ein literarischer Spaziergang. Weil ich die meisten der auftauchenden Figuren als „Personen unterwegs“ schilderte, fiel mir unversehens ein Titel für meinen Text zu:
Maria geht spazieren
Jeden Tag stand ich vor der gleichen Frage: „Wie geht die Geschichte weiter?“
Jeden Tag fand ich einen neuen Dreh. Auch der Textfluss selber beeinflusste den Lauf der Dinge. Ich schaffte die 24 Tage, und die 24 Tage schafften mich.
Der letzte Satz am vierundzwanzigsten Tag hiess: „Sie flanierte durch die Stadt.“

PS: Im Neuen Jahr 2021 wünsche ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, gutes Ergehen!

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